6. Schlusswort

Die Kriminalitätsfurcht ist zu Beginn der 1990er Jahre sprunghaft gewachsen. Landläufig wird dieser Befund auf das Ansteigen der "Kriminalität" zurückgeführt. Diese Interpretation hat sich aber vor dem Hintergrund von empirischen Untersuchungen als widersprüchlich erwiesen: Die "Kriminalität" – die in der polizeilichen Kriminalstatistik als "erfasste Straftaten" erscheint – ist erst angestiegen, nachdem die Kriminalitätsfurcht zugenommen hat.

Der kritische Ansatz Cremer-Schäfers, der uns eine plausible Interpretation dieser Beobachtung erlaubt, sieht den Grund für das von der Kriminalitätsentwicklung losgelöste Ansteigen der Kriminalitätsfurcht in Sicherheitspaniken, in polizeilich-publizistischen Dramatisierungskampagnen, die ein Klima gesellschaftlicher Angst und Verunsicherung zu erzeugen vermögen. Auf diese Weise werden Ängste vor sozialen Problemen sowie gesellschaftliche Konflikte vereinnahmt und gebündelt.181 Die Probleme werden dabei auf die "Kriminalität" projiziert, an die Justiz- und Polizeiapparate delegiert und erscheinen schliesslich als mit repressiven Mitteln lösbar.

Die Praxis polizeilich-publizistischer Dramatisierung lässt sich bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen, und es zeigt sich, dass immer wieder andere soziale Randgruppen als Feindbilder gedient haben:

"Angefangen von der "halbstarken Jugend", über die "politischen Extremisten", die "chaotischen Gewalttäter", die "skrupellosen Dealer" bis zu den "Ausländerbanden", der "Strassenkriminalität" und der "Organisierten Kriminalität", alles diente seit dem Ende der 60er Jahre nacheinander und immer wieder zur Konstruktion von Bedrohungslagen und Krisenszenarien."182

Dieser Ansatz trifft zwar für die 1990er Jahre zu, für die vorangehende Zeit ergibt sich aber ein Problem: Es ist nicht einsichtig, warum die Kriminalitätsfurcht erst zu Beginn der 1990er Jahre in die Höhe schnellt, wenn bereits zuvor immer wieder Sicherheitspaniken inszeniert wurden. Mit anderen Worten: Die polizeilich-publizistische Dramatisierung ist wohl eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Entstehen weitreichender Verunsicherung.

Wir fragten deshalb nach Hintergründen für diese Verunsicherung, nach den Verbindungen und Wechselwirkungen von Verunsicherungsfaktoren und Diskursen der Verunsicherung. Wir wollten damit die Bedingungen untersuchen, welche die massive Verunsicherung der 1990er Jahre hervorgebracht haben und letztlich zum kollektiven Wunsch nach "Innerer Sicherheit" führten. Gleichzeitig interessierte uns, wie die relative Unabhängigkeit zwischen den materiellen Verunsicherungsfaktoren und der Wahrnehmung der Verunsicherung zustande kommt.

Mit dem Konzept des Basiskonsenses in Bornschiers Theorie der Karriere von Gesellschaftsmodellen verfügen wir über ein Instrument, das die beiden Fragen der Analyse zugänglich macht. Der Basiskonsens hat in der zyklischen Abfolge von Gesellschaftsmodellen eine Doppelrolle: Er stattet das Gesellschaftsmodell durch aktive Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder mit Legitimität aus und ist gleichzeitig ein Set von Regeln, das Diskurse strukturiert. Insofern verfügen wir über ein theoretisches Instrument, welches erlaubt, längerfristige diskursive Veränderungen vor dem Hintergrund grundlegender sozialstruktureller Wandlungsprozesse zu begreifen.

Bornschiers Gesellschaftstheorie verbindet zwei grundlegende Aspekte gesellschaftlicher Systeme: der Konfliktverlauf des Gesellschaftsmodells untersucht den Problemkreis des Wandels gesellschaftlicher Strukturbildung. Die Bestandteile des Gesellschaftsmodell hingegen haben den Problemkreis der Stabilität gesellschaftlicher Strukturbildung zum Thema. In Bornschiers Gesellschaftstheorie ist der Konflikt axiomatisch angelegt. Jede gesellschaftliche Ordnung kann nur für eine bestimmte Zeit den Anforderungen genügen, die das gesellschaftliche Zusammenleben an sie stellt. Die Übereinkunft über die gesellschaftliche Ordnung entspricht hier dem Basiskonsens. Ist diese Ordnung erst einmal verfestigt, wird sie relativ träge; die Reaktion auf technologischen, politischen und ökonomischen Fortschritt wird durch ihre stabile Ausgestaltung stark verlangsamt, wenn nicht sogar verunmöglicht. Dadurch eröffnet sich ein immenses Konfliktpotential: Die Inhalte der gesellschaftlichen Übereinkunft, des Basiskonsenses, können mit der Zeit aufgrund des Fortschritts nicht mehr als verbindliches Regelset genügen. Die Loyalität dem Gesellschaftsmodell gegenüber nimmt dadurch rapide ab.

Zum Zeitpunkt des grösstmöglichen Konfliktes verlangt die Gesellschaft wie zu keinem anderen nach Ordnung, Orientierung und Sicherheit. Die Bestandteile des Gesellschaftsmodells sind nicht in der Lage, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Der Schlüssel zu diesem Problem liegt in der vergesellschafteten Kommunikation, also in Diskursen. Folgende Eigenschaften von Diskursen erweisen sich in einer solchen Krisenphase des Gesellschaftsmodells als besonders geeignet, den Konflikt vorübergehend zu kanalisieren: Diskurse vermögen die Themen der Verunsicherung schnell aufzugreifen und in der Form von Debatten einer kollektiven, wenn auch immateriellen Verarbeitung zugänglich zu machen. Dadurch schaffen sie für die Öffentlichkeit kurzfristig Orientierung. Diskurse weisen zudem die für Eliten günstige Eigenschaft auf, dass sie machtempfindlich sind: Machtpolitische und staatliche Interventionen werden in Diskursen rasch aufgenommen, und begünstigen temporär die Legitimitätszufuhr an das marode Gesellschaftsmodell. Denn nur wenn Loyalität vorherrscht, kann die neue temporäre Ordnung verbindliche Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben bereitstellen.

Das Auseinanderfallen von Verunsicherungsfaktoren – wie der Kriminalitätsfurcht – und der beobachtbaren Entwicklung von Verunsicherungsfaktoren – den verschiedenen Manifestationen von Konflikt wie beispielsweise den "erfassten Straftaten" – kann durch die Verbindung der Theorie von Gesellschaftsmodellen mit Diskurstheorie verstanden werden. Diese Diskrepanz ist nicht zufällig, sondern entsteht aus der gegenläufigen Bewegung von Sicherheitsdiskursen, die von der Auflösung des Basiskonsenses in der Zersetzungsphase des Gesellschaftsmodells der Nachkriegszeit ausgelöst wurde, und der Entwicklung von gesellschaftlichem Konflikt, der sich in Verunsicherungsfaktoren artikuliert. Das Anschnellen der Kriminalitätsfurcht ist also ein Ausdruck für die allgemeine Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, welche durch die Zersetzung des Basiskonsenses ausgelöst wurde.

Wir sind natürlich nicht in der Lage, solche diskursiven Veränderungen inhaltlich zu prognostizieren, können aber aus der Karriere von Gesellschaftsmodellen Hypothesen über den zeitlichen Verlauf des Basiskonsenses gewinnen. Aus dem zeitlichen Verlauf lässt sich dann wiederum begründen, wann eine Intensivierung von Diskursen der Verunsicherung zu erwarten ist.

Aufgrund der theoretischen Überlegungen konnten wir den zeitlichen Verlauf des Basiskonsenses theoretisch festlegen. Die Entwicklung des Basiskonsenses ist eng an diejenige des politökonomischen Regimes gebunden. In Europa ist der Beginn des letzten Gesellschaftsmodells mit dem Ende des zweiten Weltkrieges datiert. Mit der Entfaltung des Gesellschaftsmodells und der steigenden Problemlösungskapazität des politökonomischen Regimes verfestigt sich auch der Basiskonsens bis zu seinem Höhepunkt Ende der 1960er Jahre. Danach zersetzt sich der Basiskonsens; sein Tiefpunkt wird zu Beginn der 1990er Jahre erwartet.

Um die theoretischen Vorstellungen des Basiskonsenses empirisch zu überprüfen, konstruierten wir aus dem kumulierten Eurobarometer-Datensatz einen Indikator. Der Indikator basiert auf der Überlegung, dass in Meinungsumfragen wie den Eurobarometer-Studien nicht lediglich individuelle Meinungen erhoben werden, sondern die Verbreitung von Diskursen. Würden die Fragen, welche Meinungen zur Gesellschaftsstruktur erheben, zunehmend heterogener beantwortet, so wäre dies ein Hinweis auf zunehmenden Dissens bezüglich der erfragten Themen. Wir betrachteten die quantitative Veränderung des Zusammenhangs dreier Variablen, die in ihrer Kombination als Kohärenz des klassischen politischen Feldes betrachtet werden können. Wenn diese Variablen zunehmend heterogen beantwortet werden, lässt dies auf ein Aufbrechen des Basiskonsenses schliessen.

Der Basiskonsens-Indikator kann aufgrund seiner empirischen Konstruktion bloss als Hinweis auf die Entwicklung der Intensität des Basiskonsenses gesehen werden. Er vermag keine Feinanalyse wiederzugeben, sondern gibt Hinweise auf die Zu- oder Abnahme des Basiskonsenses und darauf, ob sein Niveau insgesamt hoch oder tief ist.

Die Berechnungen des Basiskonsens-Indikators haben die theoretischen Erwartungen in den Grundzügen erfüllt: Wir konnten einen Indikator für die EU berechnen, der die Auflösung des Basiskonsenses bestätigt. Wir haben diesen Indikator auf vier soziodemographische Variablen hin überprüft und dabei eine bemerkenswerte Konsistenz des Indikators festgestellt.

Zudem überprüften wir den Indikator auf Länderunterschiede und stellten dabei gewichtige Differenzen seiner Bewegung fest: Es liessen sich vier Gruppen von Ländern bilden, die je einem bestimmten Muster entsprechen. Uns interessierte weniger, auf welche länderspezifischen Faktoren diese Unterschiede zurückgeführt werden könnten. Der Umstand, dass überhaupt Länderunterschiede vorhanden sind, erforderte bereits weitere theoretische Überlegungen.

Neben den Länderunterschieden mussten wir auch konstatieren, dass in fünf von neun Ländern der gesamteuropäische Indikator weniger erklärte als ein nach Nationalität differenzierter. Im Indikator, der nicht nach Ländern differenziert wurde, bleiben folglich viele Informationen verborgen.

Der Basiskonsens-Indikator weist in den einen Ländern besonders hohe und in anderen besonders tiefe Werte auf. Die unterschiedlichen Niveaus des Indikators verweisen darauf, dass sich die Diskurse, die im Indikator gemessen werden, unterscheiden. Wir können demzufolge nicht davon ausgehen, dass ein einziger gesamteuropäischer Diskurs vorliegt. Weil wir den Basiskonsens als spezifische Form dieser Diskurse operationalisiert haben, gehen wir davon aus, dass auch der Basiskonsens nationalstaatlich fragmentiert ist.

Primären Bezugsrahmen für Diskurse bildet die Öffentlichkeit. Wir verstehen Öffentlichkeit als Raum, in dem in öffentlichen Diskursen die praktische Ausgestaltung des politischen Raumes und Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens verhandelt wird.

In modernen Staaten wird "Öffentlichkeit" primär durch Massenmedien hergestellt. Die historisch-soziale Tradition eines Nationalstaates ist dabei nicht nur als Bezugsrahmen für die massenmediale Ausgestaltung wichtig.

Auf der europäischen Ebene konstatierten alle von uns konsultierten Theoretiker die Nicht-Existenz einer europäischen Öffentlichkeit, was bedeutet, dass auch keine gesamteuropäischen Diskurse nachgewiesen werden können. Unter dem Aspekt, dass Öffentlichkeit im modernen Staaten stark durch Massenmedien geprägt ist, beobachten wir, dass die Medien in den einzelnen Nationalstaaten über Themen, welche Europa und den jeweiligen Nationalstaat direkt betreffen, berichten. Auch wenn diese Einseitigkeit gemeinhin negativ apostrophiert wird, möchten wir darauf hinweisen, dass auch durch die Thematisierung Europas in den nationalstaatlichen Diskursen letztlich eine europäische Öffentlichkeit begünstigt werden kann.

Der Befund unserer empirischen Analyse brachte ein ambivalentes Verhältnis bezüglich unseres Indikators zum Vorschein. Obwohl der Basiskonsens-Indikator nationalstaatlich fragmentiert ist, entwickelt sich über die Jahre Homogenität bezüglich des Verlaufmusters der einzelnen Indikatoren. Während sich die Muster um 1970 noch deutlich unterscheiden, gleichen sie sich etwa ab Mitte der 1980er Jahre aneinander an. Offensichtlich wirken ab Mitte der 1980er Jahre gesamteuropäische Diskurse auf die Indikatoren ein, welche die Homogenisierung der Indikatoren hervorrufen.

Wir konnten zeigen, dass sich aufgrund der konfliktiven Karriere des Gesellschaftsmodells der Basiskonsens zu Beginn der 1990er Jahre aufgelöst hat. Daraus resultierte ein Defizit an kollektiv verbindlicher Sicherheit, was die Entstehung von Sicherheitsdiskursen im Sinne einer kollektiven Suche nach neuen Interpretationen der Sicherheit nach sich gezogen hat. Die Theorie kann uns die Frage nach den Inhalten dieser diskursiven Veränderungen natürlich nicht beantworten. Wir können aber mittels einer Analyse der konkreten historischen Situation beobachten, dass ein Diskurs der "Inneren Sicherheit" starke gesellschaftliche Resonanz findet. Die Gründe, warum die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt gerade die Innere Sicherheit und nicht eine beliebige andere Form von Sicherheit als ein besonders attraktives Konzept zur Überbrückung der Sicherheitsdefizite wählt, liegen in situativen Faktoren und lassen sich aber aus der Theorie nicht ableiten. Die Analyse der historischen Situation führte zu folgendem Ergebnis: Die alte Sicherheitsstruktur war gekennzeichnet durch Abgrenzung nach aussen und Solidarität nach Innen. Da das Aussen, über dessen Ausgrenzung kollektive Identität produziert wurde, weggefallen ist (Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus", Globalisierung, Europäische Einigung) eignete sich die Option, die Abgrenzung gegen Aussen durch eine Abgrenzung gegen Innen zu ersetzen, in besonders hohem Masse.

Als Objekt der Ausgrenzung gegen Innen traten drei Konstruktionen auf den Plan. Erstens die "Kriminalität", zweitens die "Ausländer", die im Ausgrenzungsdiskurs durch die "Asylanten" ersetzt wurden, und drittens die "Organisierte Kriminalität", welche gleichsam die Synthese der beiden ersten darstellt.

Mit der Auflösung des Basiskonsenses sind auch die Institutionen, die den Sicherheitsanspruch gewährleisteten – die Institutionen der sozialen Wohlfahrt – strittig geworden. Darin ist ein weiterer Faktor zu sehen, der eine entsolidarisierte Interpretation des Sicherheitsanspruchs begünstigt hat. Unter diesem Blickwinkel besteht die Möglichkeit respektive die Gefahr, dass im nächsten Gesellschaftsmodell eine Sicherheitsstruktur entsteht, die auf einer individualistischeren Interpretation des Sicherheitsanspruchs basiert, und soziale Sicherheit, wie sie im letzten Gesellschaftsmodell gewährleistet wurde, nicht mehr in dieser – zumindest vom Anspruch her – umfassenden Art und Weise garantiert.

 

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