Wir haben festgestellt, dass sich der Basiskonsens des Nachkriegsmodells zersetzt hat und deshalb die Diskurse der Verunsicherung zugenommen haben. Da die Sicherheitsfunktion des Basiskonsenses nicht mehr gegeben ist, treten gehäuft Sicherheitsdiskurse auf, die das Sicherheitsdefizit, welches der zersetzte Basiskonsens zurückgelassen hat, aufzufüllen versuchen. Als Ausdruck solcher Sicherheitsdiskurse haben wir in den vorhergehenden Kapiteln jeweils die Kriminalitätsfurcht herbeigezogen.
Nun wollen wir untersuchen, welche Sicherheitsdiskurse durch das Defizit des zersetzten Basiskonsenses ausgelöst wurden. Von besonderem Interesse ist hier das Zusammenwirken von mehreren verschiedenen Sicherheitsdiskursen sowie ihre Wechselwirkungen und Interaktionen.
Seit Beginn der 1990er Jahre zeigen sich die Sicherheitsdiskurse primär als Diskurse der "Inneren Sicherheit". Innere Sicherheit ist ein mehrdeutiges und multifunktionales Konzept.
Innere Sicherheit ist erstens die aktuelle Interpretation des gesellschaftlichen Grundwertes der Sicherheit. Unter diesem Aspekt handelt es sich bei den Diskursen um Innere Sicherheit möglicherweise bereits um die Konstruktion und die kontroverse Debatte einer neuen normativen Theorie, die im nächsten Gesellschaftsmodell in der Form eines neuen Basiskonsenses in Erscheinung treten könnte.
Der Basiskonsens des Nachkriegsmodells ist zersetzt, und mit ihm ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Interpretation des Sicherheitsanspruchs dieses Modells in Frage gestellt. Diese stellte in starkem Masse auf soziale Sicherheit ab. In der Krisenphase des Gesellschaftsmodells findet nun eine Bewegung weg von sozialer Sicherheit der solidarischen Interpretation des Sicherheitsanspruchs und hin zur ausgrenzenden Interpretation des Sicherheitsanspruchs im Sinne Innerer Sicherheit statt. Diese gegenwärtige Um-Interpretation bedeutet inhaltlich eine Reduktion der Sicherheit, die von der Gesellschaft zu gewährleisten sei: die Reduktion auf den physischen Schutz von Leib, Leben und Eigentum.
Innere Sicherheit ist in dieser Hinsicht eine politische Strategie und als Gegensatz zu Äusserer Sicherheit zu verstehen. Es findet eine Hinwendung des Sicherheitsanspruchs auf den Binnenraum der Gesellschaft statt. Dieser Prozess soll im vorliegenden Kapitel untersucht werden.
Innere Sicherheit ist in den Sicherheitsdiskursen der 1990er Jahre ein Schlagwort und eine Worthülse. Die Diskurse um "Kriminalität", "Organisierte Kriminalität", "Ausländer" und "Asylanten" lassen sich unter dem Begriff "Innere Sicherheit" subsumieren; Sie gehen in den beobachtbaren Diskursen merkwürdige Verbindungen untereinander ein. Es kommt zu Überlagerungen der Begriffe und der hinter den Begriffen stehenden Konzepte und Kollektivsymbole, so dass neue Bilder und Assoziationen, aber auch Kurzschlüsse entstehen können.
Auch diese Prozesse sind Gegenstand unserer Darlegungen. Wir werden beide Aspekte der Inneren Sicherheit beleuchten und den Versuch unternehmen, die Gründe herauszuarbeiten, die in der konkreten historischen Situation dazu geführt haben, dass die Innere Sicherheit und nicht eine andere Interpretation des Sicherheitsanspruchs eine solche Rolle spielen konnte.
Im Nachkriegsmodell war der Sicherheitsanspruch in eine Sicherheitsstruktur146 übersetzt worden, die einerseits auf die wohlfahrtsstaatliche Sicherung der Existenz, der Lohnarbeit, des Alters und der Krankheit ausgerichtet war und zweitens auf die "nationale Sicherheit" im Sinne der militärischen Absicherung der staatlichen Souveränität im Kontext der bipolaren Weltordnung abstellte. Diese Sicherheitsstruktur kannte eine klare Grenze zwischen einem Binnenraum - dem Staatsgebiet und den StaatsbürgerInnen mit Anspruch auf soziale Sicherung - und einem Aussenraum: "dem Ausland", wo die staatliche Macht und Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürger endete.147 Solche Klarheit ist unterdessen weitgehend erodiert. Mit dem "Zusammenbruch der realsozialistischen Länder" und dem Zerfall der bipolaren Weltordnung ist die Grenze zwischen Binnen- und Aussenraum fragwürdig geworden. Die Frage der Grenzziehung stellt sich seit 1989 nicht nur als zentraler Aspekt der Sicherheit, sondern auch im Hinblick auf die kollektive Identität.148 Die westlichen Gesellschaften hatten ihr kollektives Selbstverständnis vornehmlich in Abgrenzung zum sozialistischen Modell definiert. Seit sich dieses "verabschiedet" hat, fehlt den westlichen Gesellschaften das Gegenüber, und folgerichtig ist zu erwarten und wie wir gleich sehen werden auch zu beobachten, dass ein neues Gegenüber konstruiert wird.
Wir wenden uns zunächst einem Bereich der Konstruktion des "Anderen" zu, der sich auf den Binnenraum bezieht. Die Suche nach einem neuen "Anderen", nun im Innern, widerspiegelt sich deutlich in den Sicherheitsdiskursen der westlichen Gesellschaften. Dort fungieren
Im Bereich der Kriminalität treffen sich verschiedene Aspekte der Sicherheitsstruktur, der Konstruktion des "Anderen" und des Basiskonsenses. Kriminalität hat unter unserem Blickwinkel mehrere Funktionen, die zwar zusammenhängen, aber analytisch zu unterscheiden sind. Erstens handelt es sich bei "Kriminalität" um einen Bereich des Norm- und Regelbruchs, des Verstosses gegen nationalstaatlich und zunehmend zwischenstaatlich festgelegte Gesetzestexte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint Kriminalität als Problem, das es im Rahmen der Nationalstaaten oder der EU auf der Grundlage von Gesetzen und Institutionen zu bekämpfen gilt.
Zweitens ist Kriminalität eine Form und ein Indikator von sozialem Konflikt. Im Kontext der Entstehung eines neuen Gesellschaftsmodells müssen soziale Konflikte integriert und gedämpft werden. Der anhaltende Diskurs über Kriminalität ist unter diesem Gesichtspunkt ein Anzeichen für das Fehlen eines funktionsfähigen, etablierten Gesellschaftsmodells, ein Anzeichen kollektiver Verunsicherung angesichts unsicherer Zukunftsaussichten in Zeiten starker sozialer Konflikte.149 In besorgten Äusserungen über die wachsende Kriminalität artikuliert sich auch der Wunsch nach der allgemeinen Einhaltung gesellschaftlicher Regeln. Der geforderte Konformismus ist eine Reaktion auf ein kollektives Manko an verbindlich festgelegtem Handeln und daher als Begleiterscheinung der Suche nach einem neuen Basiskonsens typisch.
Drittens ist "Kriminalität" als kodifizierte Form abweichenden Verhaltens eine normativ festgelegte Konstruktion des "Anderen". Wenn eine kollektive Identität konstruiert werden soll (was zunächst auf der Ebene der EU zu beobachten ist, sich aber gleichzeitig aus der Dynamik der Karriere von Gesellschaftsmodellen ergibt), ist ein kollektiver Prozess der Konstruktion des "Anderen" dafür eine notwendige Voraussetzung. Wie wir bereits weiter oben diskutiert haben, sind es Ein- und Ausschlussmechanismen, die zu einem neuen Basiskonsens und damit verbunden zu einer kollektiven Identität und Orientierung führen, welche die Zukunft weniger bedrohlich als vielmehr verheissungsvoll erscheinen lassen.
Diese drei Aspekte der Kriminalität (Norm- und Regelbruch, der durch Gesetze und Institutionen zu lösen ist, Ausdruck von Verunsicherung, Konstruktion kollektiver Identität) sind unserer Ansicht nach bereits als wesentliche Ursachen der Favorisierung von Innerer Sicherheit gegenüber anderen Formen von Sicherheit zu sehen.
Für die Produktion von Identität ist die Konstruktion eines "Anderen" eine notwendige Voraussetzung. Dieser Mechanismus wurde bei sozialen Konstrukten wie "Rasse"150 oder Geschlecht151 nachgewiesen und kann prinzipiell für alle Arten der Identitätsproduktion angenommen werden.
Die Diskurse über "Ausländer" und "Asylanten" sind ein Instrument der Produktion von Identität und der Grenzziehung zwischen Innen und Aussen, dem Einen/Eigenen und dem Anderen. Diese Grenzziehung macht die "Anderen" zu Problemen.
Jürgen Link hat diesen Prozess am Begriff "Asylanten"152 aufgezeigt. Zunächst ist der Begriff "Asylanten" ein "Reizwort". Ein Reizwort weist nach Link die Tendenz zu steigernden Kompositabildungen (beispielsweise "Schein-Asylanten", "Asylanten-Problem") und zur Verwendung in einem bestimmten Wortfeld (beispielsweise "Ausländerfeindlichkeit", "Kriminalität", "Drogen") auf. Zudem funktioniert es im Zusammenhang mit stereotypen Kollektivsymbolen ("Fluten", "Belastungsgrenze", "Schlepper"-Syndrom, "Überdosis"153). Die Symbolik des Reizwortes tendiert zur realen Applikation, also zu einer Verbindung der Symbolik mit praktischem Handeln. Die Symbolik des "Einschleppens" geht in die Behauptung realer Seuchengefahr und die der "Überdosis" in Dealer-Statistiken über. Ein Reizwort fungiert als Freund- oder Feindbild und besetzt als solches positive oder negative Pole innerhalb eines phantasierten Raumes mit positiv und negativ markierten Feldern und Grenzen dazwischen. Link spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass Reizwörter in hohem Masse polemisch applizierbar sind. Sie spielen eine kristallisierende Rolle bei der Bildung von sogenannten "Hetzmassen".154
Der Begriff "Asylanten" ist einigermassen neu. Nach Link taucht er in seiner heutigen Bedeutung erstmals in den 1960er Jahren im juristischen Spezialdiskurs auf und findet 1977/78 den Weg in den Interdiskurs der Massenmedien, der Politik und des Alltags. Er findet eine zunehmend pejorative Verwendung, indem er den Begriff "Flüchtling" verdrängt. Link bringt diesen Prozess auf die Formel: "Flüchtling" = normaler Flüchtling vs. "Asylanten" = nicht normaler Flüchtling.
Während Links Untersuchung des Begriffs linguistisch und diskurstheoretisch ausgerichtet war, ist es für unseren Zusammenhang zudem wichtig, die Funktion des Begriffs vor dem Hintergrund der Dynamik des Basiskonsenses und der kollektiven Produktion von Identität zu betrachten. So vermag Links Untersuchung unsere These zu stützen, dass die Diskurse über "Asylanten" ein Instrument der Produktion von Identität und der Grenzziehung zwischen Innen und Aussen sind. Dasselbe liesse sich wohl in abgeschwächter Form auch für die Diskurse über "Ausländer" sagen.155
Diese diskursive Dynamik ist unseres Erachtens ein weiterer Grund für die Favorisierung von Innerer Sicherheit gegenüber möglichen anderen Formen der Sicherheit. Neben dem diskursiven Grund gibt es im Bereich "Ausländer/Asylanten" aber auch noch einen wesentlichen historisch-politischen Grund, den wir am Beispiel Deutschlands nachzeichnen wollen. Es handelt sich dabei um das Zusammenwirken von Ausländerpolitik und Arbeitsmarktpolitik sowie deren Verbindung mit der Asylpolitik nach dem allgemeinen Ansteigen von Asylgesuchen in den 1970er und den 1980er Jahren. Die Entwicklung in Deutschland kann - neben geringfügigen Abweichungen in einzelnen Staaten - als kennzeichnend für die Entwicklung in Westeuropa insgesamt betrachtet werden.156
Nach dem zweiten Weltkrieg waren die Wanderungsbewegungen in Europa durch die 20 Millionen "displaced persons", Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, geprägt, die der Krieg verursacht hatte. Infolge der Entfaltung des Gesellschaftsmodells und dem grossen Aufschwungs fanden die grösstenteils deutsch sprechenden Personen problemlos eine Beschäftigung.
1960 war die Arbeitslosenquote auf 1,3% gesunken, der Punkt der Vollbeschäftigung also schon beinahe erreicht. Das Wirtschaftswachstum schuf auch eine Menge schlechtbezahlter Arbeitsplätze, für die sich die knappen Reserven der inländischen Erwerbsbevölkerung kaum mobilisieren liessen. Daher verfolgte die Bundesrepublik auf Drängen der deutschen Arbeitgeber eine aktive Anwerbungspolitik in Südeuropa, der Türkei und dem Maghreb. Durch arbeitsmarktorientierte Ausländerpolitik sollten Einreise, Aufenthalt, Beschäftigung und Rückreise der "Fremd- und Gastarbeiter" konjunkturabhängig reguliert werden. Zwischen 1960 und 1968 rekrutierte die BRD aufgrund bilateraler Abkommen hauptsächlich in der Türkei hunderttausende von Arbeitskräften.157 Während 1960 noch keine 0,5 Mio. "Ausländer" in der Bundesrepublik gewohnt hatten, betrugen 1973 die Anzahl ausländischer Arbeitskräfte bereits 2,6 Mio. und die ausländische Einwohnerzahl knapp 4 Mio.158
Die inländische Erwerbsbevölkerung wurde privilegiert, indem sie weder die schlechtestbezahlte Arbeit verrichten musste, noch bei abnehmender Nachfrage nach Arbeitskräften mit Entlassungen zu rechnen hatte. Die "Pufferfunktion" der ausländischen Arbeitskräfte hatte gleichzeitig aber den Effekt, dass die inländische Erwerbsbevölkerung unterschichtet wurde, was sich dämpfend auf kollektive Arbeitsstreitigkeiten auswirkte. Den ausländischen Arbeitskräften war jedoch durch ihre Unterschichtungs- und Konjunkturpufferfunktion die Integration in die nationale Gesellschaft erschwert, was längerfristig strukturelle Spannungen erzeugte. Ab 1973, nach der Ölkrise, wechselte die arbeitsmarktorientierte Ausländerpolitik von der Anwerbungspolitik zu einem Anwerbestopp, der bis heute für Nicht-EU-BürgerInnen anhält.
Solche Spannungen sollten in den 1970er Jahren mit einer auf Integration zielenden Ausländerpolitik abgefedert werden. Allerdings griffen die institutionellen Integrationsbemühungen allesamt zu kurz, da restriktive und diskriminierende Grundsätze in der Ausländerpolitik nie überwunden wurden. Schulte159 nennt unter anderen folgende drei Elemente einer zwar als "integrativ" bezeichneten, de facto aber segregativ wirkenden Ausländerpolitik der BRD in den 1970er Jahren: Erstens wird der Aufenthalt der "Ausländer" als provisorisch angesehen. Integration ist folglich nur Integration auf Zeit. Zweitens werden die Möglichkeiten der "Ausländer", die Grundrechte in Anspruch zu nehmen, restriktiv gehandhabt. So haben sie lediglich beschränkte Möglichkeiten der politischen Partizipation, keine Gewährleistung des Familiennachzugs, einen schlechteren Schutz vor und bei Arbeitslosigkeit etc. Drittens müssen "Ausländer", falls sie eine Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus erreichen wollen, eine beachtliche Anpassungsleistung erbringen. Voraussetzungen wie langjähriger, ununterbrochener Aufenthalt, Nachweis einer gesicherten Existenzgrundlage, bestimmte Sprachkenntnisse etc. sind Selektionskriterien. Sie führen zur Konstruktion einer Gruppe von "integrationsunfähigen Ausländern", die sodann von entsprechenden Institutionen entweder dazu gebracht werden sollen, "freiwillig" auszureisen, oder aber Ausweisungs- und Abschiebeprozeduren unterzogen werden.
Schulte nennt noch weitere Punkte, die uns an dieser Stelle nicht interessieren, weil es ja lediglich darum geht, zu fragen, ob Ausländerpolitik als Integrationspolitik im Widerspruch zu einer Ausländerpolitik als Arbeitsmarktpolitik (Abschiebung der "Gast- und Fremdarbeiter" im Kontext der Rezession) stand. Die Frage kann nun dahingehend beantwortet werden, dass keine strukturellen Widersprüche zwischen der praktizierten "integrativen Ausländerpolitik" und einer "arbeitsmarktorientierten Ausländerpolitik" bestehen.
Ab 1988 zeichnete sich schliesslich eine vierte Phase der Ausländerpolitik ab: Die Umwälzungen im ehemaligen "Ostblock" führten zwischen 1988 und 1992 zu Ost-West-Wanderungen im Umfang von 5 Mio. Zuwanderern sowie zu ansteigenden Flüchtlingsziffern.
Wir können an dieser Stelle eine Zwischenbilanz ziehen: Seit Mitte der 1970er Jahre hatte sich eine wesentliche Rahmenbedingung der Ausländerpolitik verändert: Längerfristiges kontinuierliches Wirtschaftswachstum war nicht mehr gegeben, und die Nachfrage nach Arbeitskräften ging deshalb nachhaltig zurück. Nachdem die Möglichkeiten der Abschiebung von Gastarbeitern ausgeschöpft waren, sich die Zuwanderung aber weiter fortsetzte, begannen die ausländischen Erwerbstätigen die inländischen in stärkerem Masse zu konkurrenzieren als bisher. Unter diesem Gesichtspunkt werden die materiellen Wurzeln des Problems und mehr noch des Problembewusstseins sichtbar, das sich in den 1990ern vollends in den Vordergrund geschoben hat: Die Rolle der ausländischen (Erwerbs)-Bevölkerung hat sich verändert, weg vom Konjunkturpuffer und der Unterschicht und hin zum nach wie vor diskriminierten Konkurrenten auf dem nationalen Arbeitsmarkt in Zeiten der verschärften Konkurrenz um knappe Güter (Arbeitsplätze, Wohnungen, Sozialleistungen, Schulbildung etc.).
Tabelle IV
Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes 1950-1992
Zeitraum |
Arbeitslosigkeit |
Produktion (durchschnittl. jährlich) |
Erwerbstätige |
Potential an Erwerbspersonen |
Deutsche Bevölkerung |
Ausländische Bevölkerung |
1950-60 |
-1.6 Mio. |
+8.2% |
+5.0 Mio. |
+2.5 Mio. |
+4.6 Mio. |
Ca +3 Mio. |
1960-73 |
+0.0 Mio. |
+4.4% |
+1.0 Mio. |
+1.0 Mio. (Deutsche: -1.2 Mio.) |
+6.5 Mio. |
+4.0 Mio. |
1973-87 |
+2.0 Mio. |
+1.8% |
-0.0 Mio. |
+3.2 Mio. |
-0.9 Mio. |
+0.7 Mio. |
1987-92 |
-0.2 Mio. |
+3.5% |
+2.4 Mio. |
+2.3 Mio. |
+4.1 Mio. |
+4.0 Mio. |
Quelle: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nr. 4/93, S. 480.
Je länger die Krise dauerte, desto lauter wurden die Stimmen gegen "die Ausländer". In die Geschichte der Diskurse über "Ausländer" fügte sich aber noch ein stark dynamisierendes Element, das wir oben bereits erwähnt haben: die Asyldebatte.
Wir möchten an dieser Stelle nicht Argumente zum Begriff "Asylant" wiederholen, sondern auf der Grundlage der Entwicklung der Ausländerpolitik, so wie wir sie eben skizziert haben, eine zweite Annäherung an die Diskurse um "Asylanten und Ausländer" machen. Uns interessiert nach wie vor die einzigartige Rolle, welche "Ausländer und Asylanten" in den Sicherheitsdiskursen Europas spielen. Wir haben gezeigt, dass sich aus der veränderten Situation auf dem nationalen Arbeitsmarkt das Verhältnis von In- und Ausländern nachhaltig verändert hat. Aus willkommenen "Gastarbeitern" sind unangenehme KonkurrentInnen geworden. "Ausländer" rückten nun mit neuen Eigenschaften ins öffentliche Bewusstsein: Es wurde spürbar, dass sich "Ausländer" eben nicht nur auf Zeit im "Gastland" aufhalten, sondern auf Dauer, und ihre Funktion im unterschichteten Arbeitsmarkt verwandelte sich zur Konkurrenz für absteigende inländische Erwerbstätige.
Ob es nun ein Zufall ist oder nicht, genau parallel zu diesem kollektiven Lernprozess begann eine Kategorie von Ausländern - die "Asylanten" - die Diskurse zunehmend zu bestimmen, eine Kategorie, die gerade diese neuen Merkmale nicht aufweist oder nicht aufweisen soll. Die Diskurse unterschieden je länger, desto weniger zwischen "Ausländern" und "Asylanten", und es wäre in Anlehnung an Link zu fragen, ob der Begriff "Asylant" nicht nur auf die Kurzformel "nicht-normaler Flüchtling", sondern "nicht normaler Ausländer" auszudehnen wäre.160
Gerd Andres, Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Ausländische Arbeitnehmer" der SPD-Bundestagsfraktion, brachte diese Entwicklung 1992 an einer Tagung mit dem Titel "Einwanderungsland Deutschland" auf den Punkt:
"Angesichts von 193063 Asylanträgen, 238384 Übersiedlern und ca. 5,5 Millionen ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien im Jahre 1990 schien der Punkt erreicht, wo eine restriktive Einwanderungspolitik innerstaatlich aber auch auf europäischer Ebene gefordert werden musste. Was mich dabei am meisten störte, war, dass die sicherlich vorhandene Problematik in Vielem mit der drastisch ansteigenden Zuwanderungsrate fast ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt einer Asylpolitik behandelt wurde. Die in der Bundesrepublik rechtmässig lebenden und arbeitenden ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, zu 60% zwischen 10 und 30 Jahren hier ansässig, gerieten somit zwangsläufig in der öffentlichen Meinung in den Sog von Zuzugsbeschränkungs- (siehe Familienzusammenführung) und -reduzierungs-forderung, Überfremdungsangst und scheinbarer Bedrohung von gesellschaftlichen Positionen deutscher Bevölkerung. Rechtsradikale schlossen, wenn sie "Ausländer raus" riefen, weder EG-Angehörige, wie z.B. Italiener, Griechen, Spanier und Portugiesen, noch Menschen aus Drittstaaten, wie Türken oder Jugoslaven von ihrem Rassismus aus; und so mancher Bürger schien sich an die Jahrhunderte alte Tradition zu erinnern, dass es ratsam ist, wachsam gegenüber denen zu sein, die als "natürliche Schuldige" für jeglichen Unmut oder für Negativ-Ursachen gelten: Schwarze, Juden und Ausländer."161
Andres bringt die Vermischung der Diskurse zum Ausdruck sowie eine naive Empörung, dass der Rassismus der Rechtsradikalen nicht nur "Asylanten", sondern alle "Ausländer" trifft, und auch den breiten Konsens darüber, "dass eine restriktive Einwanderungspolitik (...) gefordert werden musste". Wir werden weiter unten darauf zurückkommen. Zunächst möchten wir aber einen Blick auf die quantitativen Ausmasse der Flüchtlingsbewegungen - die harten Daten hinter einer zunehmend härteren Politik - werfen.
Quelle: 1981-1982: Cordes (1992). 1983-1993: UNHCR (1994). 1994-1995: Deutsche Bundesregierung (1996) in: Fischer Weltalmanach (1997).
*) Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Niederlande, Belgien, Italien, Dänemark und Spanien zusammen.
Die Entwicklung der Asylgesuche seit Beginn der 1980er Jahre erscheint gewiss dramatisch. Innert zehn Jahren hat sich deren Anzahl in Deutschland mehr als verzwanzigfacht, in Europa immerhin fast verzehnfacht! Wenn man die Kurve nur bis 1992 betrachtet, erinnert sie der Form nach an die Exponentialkurve. Typischerweise wurden und werden solche Zahlen selbst in der Fachliteratur162 in absoluten Zahlen angegeben, was der Kurve ein erschreckendes Aussehen verleiht.
Selbst in absoluten Zahlen gemessen machten die Flüchtlinge allerdings nur einen relativ geringen Anteil an der Gesamtbevölkerung (1992: 0.05%) oder der ausländischen Bevölkerung (1992: 6.7%) aus. Der Teil der Flüchtlinge, der die Kurve zu Beginn der 1990er Jahre so stark ansteigen liess, stammte zudem aus den Kriegsgebieten um Ex-Jugoslawien und wurde kurz darauf auch wieder rigoros zurückgeschickt.163 Deutschland nimmt in Europa im Asylbereich eine einzigartige Stellung ein, denn in Deutschland fallen mehr Asylgesuche an als in allen anderen europäischen Staaten zusammen. Die Entwicklung der Asylgesuche in Deutschland entspricht im Wesentlichen der gesamteuropäischen Entwicklung.
In den Diskursen sind diese Entlastungsargumente allerdings unter den Tisch gefallen, und so führte die Bundesregierung im Anschluss an die Panikszenarien am 26.5.1992 mit 521 zu 132 Stimmen eine Grundgesetzänderung betreffend die Asylgewährung durch (Einschränkung der Rechtsmittel der Flüchtlinge, Nichteintreten auf Gesuche von Personen aus "sicheren Herkunftstaaten" sowie Beschränkung der Leistungen gegenüber Asylbewerbern auf Sachleistungen). Die Leistungen gegenüber Asylbewerbern wurden dann im November 1993 weiter gekürzt. Die Wirkung der Gesetzesänderungen lässt sich aus der Abbildung 24 (S. *) deutlich in der Form tieferer Asylgesuchsquoten ersehen.
Dies bedeutet nun aber nicht, dass die Diskurse um "Ausländer und Asylanten" abgebrochen wären. Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass auch heute die Themen "Ausländer" und "Asylanten" vermischt werden: Die Ausländerpolitik wird, besonders in den Massenmedien, unter dem Aspekt der "Asylpolitik" unter Verwendung des Vokabulars von "Illegaler Einwanderung, Internierung und Ausschaffung" dargestellt.
Wenn nun der Diskurs über "Ausländer" zunehmend zum Diskurs über "Asylanten" wird, hat dies einige Konsequenzen, die wir summarisch festhalten können:
Erstens ist die Verdrängung der "Ausländer" aus den Diskursen zugunsten von "Asylanten" vor dem Hintergrund des Funktionswandels der "Ausländer" in der Gesellschaft zu sehen. Besonders auf den Arbeitsmärkten, aber auch in Bezug auf Ansprüche der sozialen Sicherheit, sind die "Ausländer" parallel zum Begriffswechsel zur Konkurrenz der nationalen Bevölkerung geworden. Die diskursiven Praktiken der Verunsicherung und Diskriminierung haben in diesem Prozess ihre materiellen Wurzeln.
Zweitens wurden die Diskurse über "Asylanten"
zeitgleich mit der Institutionalisierung des freien Personenverkehrs in der
EU geführt. Asylanten stammen nicht aus EU-Staaten. So wurde der Diskurs
über "Ausländer" zunehmend zu einem Diskurs über Nicht-EU-BürgerInnen.
Im Kontext der Neudefinition der Grenzen zwischen Innen und Aussen (symbolisch
wie auch institutionell) wandelte sich auch das Sicherheitsbedürfnis von
Äusserer (im Sinne von nationaler) zu Innerer Sicherheit.
Drittens: Während mit dem freien Personenverkehr ein europäischer Binnenraum geschaffen wurde, konstruierte der Asyldiskurs gleichzeitig den dazugehörigen Aussenraum. Dem Einen/Eigenen wurde das Andere/Fremde gegenübergestellt. Das Andere im Innern wird unter dem Sicherheitsaspekt zu einem Problem der Inneren Sicherheit.
Wir haben gesehen, dass die Diskurse um "Kriminalität" sowie jene um "Ausländer" und "Asylanten" eine wesentliche Gemeinsamkeit haben: Beide schaffen Identität auf der Grundlage der Konstruktion des Einen/Eigenen im Gegensatz und in Abgrenzung gegenüber dem Anderen/Fremden. Wir sehen in dieser Gemeinsamkeit eine zentrale Ursache der Favorisierung der Inneren Sicherheit gegenüber andern möglichen Formen der Sicherheit. Es steckt aber noch ein zweiter Effekt in dieser Konstruktion, der ebenfalls deutlich macht, warum in den späten 1980er und den 1990er Jahren die Innere Sicherheit sich als immer bedeutungsvollere Interpretation des Sicherheitsanspruchs durchsetzen konnte. Der zweite Effekt besteht in der Verbindung und Vermischung der Diskurse um "Kriminalität" und "Ausländer/Asylanten". Es ist zwar ein alter Trick, "Ausländer" als Sündenböcke für alle möglichen sozialen Probleme, einschliesslich der Kriminalität, darzustellen, und es wäre wohl möglich, zu jedem beliebigen Zeitpunkt Belege für entsprechende Vorkommnisse zu finden. In den 1990er Jahren hat aber diese Praxis eine neue Qualität angenommen, und um diese geht es uns hier.
Wir haben weiter oben bereits diskutiert, dass der Begriff "Asylanten" nach Link die diskursiven Eigenschaften eines "Reizwortes" aufweist, was unter anderem die Bildung von steigernden Kompositabildungen wie beispielsweise "kriminelle Asylanten" begünstigt. Wenn von "kriminellen Asylanten" gesprochen wird, geschieht aber mehr als eine Steigerung oder eine diskriminierende Verknüpfung. Es werden zwei Diskurse zusammengeleitet und zu einem einzigen, neuen Diskurs synthetisiert. Die aufgeladenen Begriffe "kriminell" und "Asylanten" sowie ihre Bedeutungsfelder und Assoziationsräume überlagern sich dann und beginnen miteinander zu verschmelzen. Assoziationen und Bedeutungsinhalte können sich zu neuen kollektiven Bildern und Phantasmen verdichten oder auch an ältere Kollektivsymbole anknüpfen. Hinter der dunklen Schattengestalt, die in der düsteren Gasse auf ihr harmloses Opfer lauert, vermutet dann kaum mehr jemand einen Landsmann.
Umgekehrt führt der Kurzschluss beider Diskurse dazu, dass fortdauernd ein impliziter innerer Zusammenhang zwischen deren Gegenstandsbereichen entsteht, der dann auf die ursprünglichen Diskurse zurückwirkt. So lässt sich, nachdem einmal ein breiter Diskurs über "kriminelle Asylanten" geführt worden ist, die "Kriminalität" kaum mehr losgelöst von den "Asylanten" diskutieren, und umgekehrt setzt sich die Annahme fest, dass "Asylanten" etwas mit "Kriminalität" zu tun hätten.
Das Beispiel der "kriminellen Asylanten" steht im deutschsprachigen Raum als zugespitzter Ausdruck, als diskursive Eskalation da, die im Kontext einer eigentlichen Sicherheitspanik164 zu verstehen ist. In anderen europäischen Staaten haben im selben Zeitraum relativ ähnliche Diskurse stattgefunden, welche Flüchtlinge in direkte Verbindung mit Kriminalität gebracht haben.165
Gleichzeitig wurde die Verbindung von "Kriminalität" und "Ausländern" in weniger expliziter Form unter der Chiffre der "Organisierten Kriminalität" diskutiert und inszeniert. Wir möchten diesen Konnex anhand einer kurzen Darstellung der Debatte und mit einem Blick auf die polizeiliche Praxis zur Bekämpfung der "Organisierten Kriminalität" in Deutschland aufzeigen.
Der Begriff "Organisierte Kriminalität" lässt sich bis in die 1970er Jahre zurückverfolgen.166 Er hat seine Wurzeln im polizeilich-juristischen Spezialdiskurs. Dort wurde er in die Welt gesetzt und entwickelt. Zum Diskurs einer breiten Öffentlichkeit wurde Organisierte Kriminalität aber erst im Kontext des Schengener Abkommens und der daraus hervorgegangenen Thematik eines Sicherheitsdefizits als Folge fehlender Grenzkontrollen. "Organisierte Kriminalität" wird gerade von offiziellen Stellen als spezifisch ausländisches Problem dargestellt:
"European integration and abolition of border controls among several EC countries have added a new dimension to the debate on ethnicity, migration and crime. The Schengen treaties of 1985 and 1990 and the Maastricht treaty have put the focus on coordination of policies toward immigration and asylum, while international organized crime and cross-border crime have become a major point of concern for the European Community (Kühne 1991). Migration and ethnic minorities receive attention concerning organized crime for two reasons. First, organized crime is still conceived as a threat posed by alien groups, for example, the Sicilian (or the Polish, Russian, Chinese, etc.) Mafia, which according th most official statements is expected to extend its scope of criminal activities to central European countries (Boge 1989). Official accounts of organized crime in Germany suggest that a majority of offenders suspected of belonging to organized crime groups are foreigners (Bundeskriminalamt 1991, p. 14; 1992, p. 21; Ahlf 1993, p. 138; Gewerkschaft der Polizei 1994)."167
Seit der Entstehung des Begriffs ist der Polizei als Urheberin keine eindeutige theoretische Definition gelungen.168 Ähnlich wie bei der allgemeinen "Kriminalität" existiert aber eine Definition aus der polizeilichen Praxis, die zuerst für die Registrierung und die regelmässige Publikation, danach aber auch als Grundlage entsprechender Interdiskurse faktische Geltung erlangt hat. Wir geben die aktuelle polizeiliche Definition wieder, aufgrund derer jährlich ein "Lagebild Organisierte Kriminalität"169 erstellt wird:
"Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln und in Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig
Diese Definition ist sehr vage und lässt breiten Raum für Interpretationen. Sie beschreibt keine Handlungen, die nicht entweder gesellschaftlich legitimiert, ja weitgehend gesellschaftskonstituierend sind (Arbeitsteilung von mehr als zwei Beteiligten auf längere oder unbestimmte Dauer, Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, Gewinn- und Machtstreben, Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft) oder aber bereits durch einschlägige Strafrechtsnormen sanktioniert werden.171
Die Lageberichte und das empirische Material, das letztlich eine Rahmenbedingung in den Diskursen um Organisierte Kriminalität spielte, bauen auf dieser vagen Definition auf. Die wichtigsten empirischen Ergebnisse der Lagebilder sind in Tabelle V zusammengefasst.
Bundeslagebild Organisierte Kriminalität172
|
1987- |
19922 |
19933 |
1994 |
1995 |
1996 |
||
Verfahren |
369 |
641 |
776 |
789 |
787 |
845 |
||
Internationale Tatbegehung |
47,2% |
63% |
67,9% |
66,1% |
69,5% |
>75% |
||
Spezielle Definitions- |
55,6% |
73,6% |
79,8% |
75,4% |
79,8% |
|
||
Einzeldelikte |
104.938 |
60.564 |
42.246 |
97.877 |
52.181 |
47.916 |
||
Tatverdächtige |
5.149 |
8.352 |
9.884 |
9.256 |
7.922 |
8.384 |
||
Ausländeranteil |
50,6% |
51% |
54,5% |
58,7% |
63,6% |
62,2% |
1 9 Bundesländer und BKA. 2 Bundesländer und BKA. 3 ab 1993: 16 Bundesländer, BKA und BGS.
Wir können der Tabelle V entnehmen, dass die Anzahl der Verfahren und der Tatverdächtigen tendenziell zugenommen hat. Die Zahl der Einzeldelikte dagegen schwankt massiv, was darauf zurückzuführen ist, dass sowohl in der Spalte 1987-1991, als auch in jener von 1994 einzelne Mammut-Verfahren enthalten sind, die alleine gegen 50'000 Delikte enthalten.173
Die Lagebilder zur "Organisierten Kriminalität" sind also stark von der polizeilichen Arbeit abhängig. Zudem bilden sie die empirische Grundlage der Diskurse zur "Organisierten Kriminalität". In den Lagebildern wird das Problem definiert und strukturiert, das nachher in die Öffentlichkeit getragen wird. Es sind also in ausserordentlich hohem Masse die Experten, die das Problem "Organisierte Kriminalität" definieren. Wir wollen deshalb genauer auf den Elitendiskurs eingehen.
In diesem Zusammenhang ist auch das Ergebnis einer Expertenbefragung des Bundeskriminalamtes von 1990 interessant.174 26 Vertreter aus der Justiz, der Polizei, der Wissenschaft und den Medien wurden darin zur Organisierten Kriminalität (OK) befragt. Die Experten schätzten dort den OK-Anteils an der Gesamtkriminalität für 1988 auf durchschnittlich 19% ein und rechneten mit einer Verdoppelung bis ins Jahr 2000. Die Polizei schätzte dabei den Anteil mit 13% (1988) am geringsten ein.
Wenn wir diese Erwartung mit den empirischen erfassten Fällen von "Kriminalität" und "Organisierter Kriminalität" vergleichen, ergibt sich, dass die Experten den OK-Anteil um das 20- bis 105-fache überschätzten.175 Diese massive Fehlbeurteilung mag illustrieren, dass die "Organisierte Kriminalität" zu Beginn der 1990er Jahre im Experten- und Elitendiskurs bereits die Form eines Schreckgespenstes angenommen hatte und einer gewissen Eigendynamik der Übersteigerung ausgesetzt war.
Wir können der Tabelle V auch entnehmen, dass der Ausländeranteil kontinuierlich angestiegen ist und die Organisierte Kriminalität also immer mehr zum "Ausländerproblem" geworden ist. Der hohe Ausländeranteil ist Folge polizeilicher Selektionsprozesse und Schwerpunktbildungen176, galten doch bundesweite Auswertungsprojekte besonders der "Osteuropäischen Organisierten Kriminalität" und der "Italienischen Organisierten Kriminalität". Zudem fallen Delikte wie Drogenhandel, Waffenhandel und Schleuserkriminalität, deren Internationalität in der Natur der Sache liegt, unter den Begriff der Organisierten Kriminalität.
Auch hier gibt die Expertenbefragung des Bundeskriminalamtes aufschlussreiche Hinweise auf den Elitendiskurs. In der Einschätzung der Bedeutung der "Ausländer" im Bereich der Organisierten Kriminalität waren sich praktisch alle Experten einig, dass "Ausländer" für die "Organisierte Kriminalität" immer wichtiger würden. Am ausgeprägtesten waren die Polizisten, die Justizbeamten und die Wissenschaftler dieser Ansicht, während die Journalisten nur eine geringe Bedeutungszunahme vermuteten.
Die Expertenbefragung des Bundeskriminalamtes ist insgesamt ein gutes Beispiel zur Illustration des Elitendiskurses zur Organisierten Kriminalität. Alle vier Expertengruppen haben schliesslich für sämtliche erfragten Bereiche177 eine Zunahme bis zum Jahr 2000 erwartet. Besonders Polizei- und Medienvertreter äusserten sich besorgt über die Möglichkeit "mafiaähnlicher Verhältnisse" in der Bundesrepublik, falls "das Problem OK der Öffentlichkeit und den Verantwortlichen weiterhin wenig bewusst bleibt, wenn in Folge davon (kriminal-) politische Reaktionen nur halbherzig oder gar nicht erfolgen und wenn verbesserte Bekämpfungsinstrumentarien und -strategien ausbleiben".178
Organisierte Kriminalität wird als gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet, bei dem die Bedeutung der Ausländer immer wichtiger wird. Nur durch eine "öffentliche Mobilmachung" und durch "Umdenkprozesse" könnte sie zurückgedrängt werden.179 Der Expertenbericht endet denn auch mit der manifestartigen Auflistung von sechs Eckpunkten zur OK-Bekämpfung, von denen die Punkte 1 - 4 mehr Mittel und Kompetenzen für die Polizei fordern, und die anderen beiden Punkte einerseits "längerfristige, grossangelegte OK-Aufklärungsprogramme in Zusammenarbeit mit den Massenmedien" und "eine alle geeigneten Institutionen umfassende gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem OK-Phänomen" verlangen.180
Der Bericht spiegelt den Experten- und Elitendiskurs wieder und porträtiert unter diesem Gesichtspunkt die diskursive Aufbruchsstimmung, den Willen zur breiten Lancierung des Sicherheitsdiskurses als Diskurs der "Organisierten Kriminalität".
Wir sind in diesem Kapitel davon ausgegangen, dass der Basiskonsens des Nachkriegsmodells zersetzt ist und dass deshalb Diskurse der Verunsicherung eingesetzt haben. Die Ursache dafür liegt darin, dass der Basiskonsens Sicherheitsfunktion hat: Da er unter anderem der Konsens über die Ausgestaltung des Sicherheitsanspruchs im Gesellschaftsmodell ist, garantierte er bis zu seiner Zersetzung die gesellschaftliche Übereinstimmung über Form und Umfang der Sicherheit, welche durch das politökonomische Regime zu gewährleisten war. So regelte er auch die Bahnen, in denen sich Sicherheitsdiskurse bewegten. Die Problemlösungsfähigkeit des politökonomischen Regimes hat seit den 1970er Jahren abgenommen und ist mittlerweile weitgehend verloren. Deshalb hat sich auch der Basiskonsens zersetzt, und in der Folge treten gehäuft Sicherheitsdiskurse auf, die das Sicherheitsdefizit, welches der zersetzte Basiskonsens zurückgelassen hat, aufzufüllen versuchen.
In diesem Kapitel haben wir drei Sicherheitsdiskurse dargestellt, die aufgrund der konkreten historischen Bedingungen eine besondere Dynamik durchlaufen haben: Am Diskurs zur "Kriminalität" haben wir drei Charakteristika herausgearbeitet, die auch bei den anderen beiden Diskursen, den Diskursen zu "Ausländern/Asylanten" und zur "Organisierten Kriminalität", anzutreffen sind und die Chance plausibilisieren, dass die Diskurse unter der Voraussetzung des zersetzten Basiskonsenses Beachtung finden: Erstens thematisieren und kanalisieren alle drei Diskurse Verunsicherung. Zweitens kann das Problem ("Kriminalität", "Ausländer/Asylanten" oder "Organisierte Kriminalität") an die Justiz und die Polizei delegiert werden. Damit erscheint es einerseits lösbar, und andererseits erlaubt es ein hohes Mass an Oberflächlichkeit: Man braucht nicht nach den sozialstrukturellen Wurzeln des Problems zu suchen; würden diese offengelegt, so wäre nämlich die fehlende Problemlösungsfähigkeit des politökonomischen Regimes zu thematisieren. Drittens wird das Problem dem imaginären Bereich des "Anderen" zugeschrieben. Auf diese Weise wird der oder das "Andere" zum Sündenbock. Umgekehrt ist die kollektive Produktion von "Anderen" orientierungs- und identitätsstiftend. Der zersetzte Basiskonsens und das politökonomische Regime, welches kaum mehr Probleme lösen kann, stellen die Gesellschaft vor Orientierungs- und Identitätsprobleme.
Diese drei Eigenschaften der Sicherheitsdiskurse sind unserer Ansicht nach bereits als wesentliche Ursachen der Favorisierung von Innerer Sicherheit gegenüber anderen Formen von Sicherheit zu sehen.
Im Diskurs über "Ausländer und Asylanten" trat der europäische Kontext hervor. Mit dem Projekt des freien Personenverkehrs im Rahmen der Europäischen Einigung stellt sich die Frage nach dem Innen- und Aussenraum in doppelter Hinsicht: als symbolisches und als institutionelles Problem.
Während mit dem freien Personenverkehr ein europäischer Binnenraum geschaffen wurde, konstruierte der Diskurs um "Ausländer/Asylanten" gleichzeitig den dazugehörigen Aussenraum.
Es hat sich gezeigt, dass "Ausländer" immer mehr aus den Diskursen verschwinden und stattdessen "Asylanten" an ihre Stelle treten. Auf diese Weise wurde der Diskurs über "Ausländer" zunehmend zu einem Diskurs über Nicht-EU-BürgerInnen, da "Asylanten" nicht aus EU-Staaten kommen. Auf der symbolischen Ebene werden "Ausländer/Asylanten" als das "Andere" definiert. Dies hat die Konsequenz, dass die Aussengrenzen symbolisch nach Innen verlegt werden, was eine Verschiebung der Favorisierung von klassischer Nationaler Sicherheit auf Innere Sicherheit bewirkt.
Die Frage nach dem Innen- und Aussenraum stellt sich nicht nur als Frage von Staatsgrenzen, sondern auch als Frage nach Loyalitäts- und Solidaritätsgrenzen. Mit dem Absinken der Problemlösungskapazität des politökonomischen Regimes wurde der Rahmen, in dem Sicherheit gewährleistet werden soll, strittig. In der Blüte des Gesellschaftsmodells wurde Sicherheit wesentlich als wohlfahrtsstaatlicher Schutz vor Krankheit, Arbeitslosigkeit, Altersarmut und ähnlichen Verunsicherungsfaktoren betrachtet. Mit der Auflösung des Gesellschaftsmodells ist sowohl dieses Sicherheitsverständnis als auch die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen in Frage gestellt. "Ausländer" und mehr noch "Asylanten" erscheinen als die Gruppen, die vom solidarischen Sicherheitsverständnis ausgeschlossen werden sollen. Im Diskurs werden sie als Sicherheitsproblem charakterisiert.
Der dritte Sicherheitsdiskurs, den wir untersucht haben, nämlich der Diskurs um "Organisierte Kriminalität", konstruiert schliesslich eine Verbindung zwischen "Kriminalität" und "Ausländern/Asylanten". In der "Organisierten Kriminalität" sind ausländische StraftäterInnen als Folge der polizeilichen Strafverfolgungspraxis chronisch überrepräsentiert. Im Hinblick auf die Symbolik handelt es sich bei "Organisierter Kriminalität" um "mafiaähnliche" Straftaten; und diese haben ihre Wurzeln selbstverständlich im Ausland.
Im Fall der "Organisierten Kriminalität" haben wir den Experten- und Elitendiskurs betrachtet. Wir haben festgestellt, dass das Ausmass der "Organisierten Kriminalität" von den Experten massiv überschätzt wurde. Zudem zeigte sich der Wille, die "Organisierte Kriminalität" in Form einer "öffentlichen Mobilmachung" zu bekämpfen, was als klare Absicht zur Lancierung einer Kampagne verstanden werden konnte.
Die Öffentlichkeit hat die Nachricht verstanden und aufgenommen: Die Kriminalitätsfurcht ist denn auch aufgrund der Sicherheitsdiskurse über "Organisierte Kriminalität" sprunghaft angestiegen.
Kapitel 4 | Kapitel 6