4. Nationalstaatlich fragmentierte Diskurse

Die empirische Analyse hat gezeigt, dass der gesamteuropäische Indikator zwar grundsätzlich unsere theoretischen Vorstellung des Basiskonsenses bestätigt, aber durch das Zusammenfügen verschiedener nationalstaatlicher Samples zum Gesamtindikator Informationen verwischt werden. Dieser Befund wirft drei inhaltlich verknüpfte Fragen auf.

Zunächst überrascht, dass der Basiskonsens-Indikator auf der Ebene der EU deutlich tiefere Werte aufweist als auf der Ebene der Nationalstaaten. Zudem unterscheiden sich die Indikatoren für die einzelnen Nationalstaaten zum Teil deutlich. Drittens konstatierten wir, dass die nationalstaatlichen Indikatoren stärkere Effekte verursachen als die soziodemographischen Variablen Geschlecht, Alter, Einkommen und Bildung.

In einem Problemaufriss EU versus Nationalstaat versuchen wir, die historischen Grundlagen für diesen Befund aufzuarbeiten. Danach soll es darum gehen, den Bezugsrahmen für Diskurse, deren Zusammenhang mit dem Basiskonsens wir bereits im Kapitel 2 betrachtet haben, genauer anzuschauen. Voraussetzung für Diskurse ist eine Öffentlichkeit. Wir werden deshalb die Beziehungen zwischen Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung und Diskursen genauer abklären müssen.

4.1 Rekapitulation der Ergebnisse der empirischen Analyse

In Abbildung 8 sehen wir den Verlauf des Basiskonsenses auf der Ebene der Europäischen Union. Der Basiskonsens hat sich seit den 1970er Jahren zusehends zersetzt. Wir können also die grundlegende Tendenz zur Auflösung des Basiskonsenses für die EU belegen. Die Unterscheidung nach soziodemographischen Variablen zeigt, dass diese den Basiskonsens-Indikator kaum beeinflussen.97 Die Unterschiede,welche die Variablen Alter, Geschlecht und Einkommen auslösen, sind geringer als die Gemeinsamkeiten, die durch den Indikator gezeigt werden. Einzig das Kriterium "Bildung" führt zu einer höheren Erklärungskraft als sie der Indikator selbst besitzt. Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bildungschicht bedeutet demnach Partizipation an bestimmten, durch die Bildungsschicht beeinflussten Diskursen.

Die Unterscheidung nach Nationalstaaten98 relativiert die auf den ersten Blick optimistisch stimmenden Ergebnisse des gesamteuropäischen Indikators. In fünf von total neun Ländern erklärt der nach Nationalität differenzierte Indikator mehr als der gesamteuropäische. Im Indikator, der nicht nach Ländern differenziert wurde, bleiben demnach viele landesspezifische Informationen verborgen.

Diesem Befund liegt eine technische und eine inhaltliche Dimension zugrunde. Die technische Dimension ergibt sich als Implikation aus der Operationalisierung des Indikators. So vereint dieser die abhängige Variable V13 (left-right-placement)98 mit den unabhängigen Variablen V6 (democracy satisfaction)99100 und V8 (amount of social change desired)101. Alle drei Variablen beziehen sich zuminmdest indirekt konzeptuell auf den Nationalstaat. Die Variable V6 fragt ausdrücklich nach der Demokratiezufriedenheit im eigenen Land. Die Variable V8 erfragt die Art des erwünschten sozialen Wandels. Die drei Antwortvorgaben dieser Frage (vgl. Fussnote) hängen stark mit der Selbsteinschätzung auf der Links-Rechtsskala zusammen, indem bei der ersten Antwortvorgabe der Revolutionsbegriff – für die politische Linke – bemüht wird, die zweite Antwortvorgabe auf die politische Mitte zugeschnitten ist und die dritte durch das Erwähnen der "subversive forces" die politische Rechte in sich vereinen wird. Auch wenn in dieser Frage kein expliziter Bezug auf das eigene Land hergestellt wird, kann historisch gesehen das Links-Rechts-Schema nicht unabhängig vom Nationalstaat als Bezugsrahmen für das politische System und damit für die politische (Selbst-)Einschätzung gesehen werden. Somit tragen Variable V8 wie für Variable V13 einen indirekten Bezug auf den Nationalstaat in sich.

Die inhaltliche Dimension geht auf folgende Überlegung zurück: Der Basiskonsens-Indikator weist in den einen Ländern besonders hohe und in anderen besonders tiefe Werte auf. Die unterschiedlichen Niveaus des Indikators verweisen darauf, dass sich die Diskurse, die im Indikator gemessen werden (Vgl. Kapitel 3.3.2), unterscheiden. Wir können demzufolge nicht davon ausgehen, dass ein einziger gesamteuropäischer Diskurs vorliegt. Weil wir den Basiskonsens als spezifische Form dieser Diskurse operationalisiert haben, gehen wir davon aus, dass auch der Basiskonsens nationalstaatlich fragmentiert ist.

Im Zusammenhang mit der aktuellen Globalisierungsdebatte und unter dem Umstand, dass die Europäische Union als zwar neuartiges, aber trotzdem politisch integriertes Staatsgebilde besteht, interessieren folgende Fragen. Warum sind Diskurse nationalstaatlich fragmentiert und welche Voraussetzungen liegen dieser Fragmentierung zugrunde? Gibt es Diskurse, welche über Landesgrenzen hinweg in der Öffentlichkeit thematisiert werden?

Für das Erklären nationalstaatlich fragmentierter Diskurse sind Begriffskonzepte der "Öffentlichkeit", der "öffentlichen Meinung", der "politischen Öffentlichkeit", des "öffentlichen Raumes" und schliesslich das Konzept des "Nationalstaates" entscheidend.

4.2 Nationalstaat versus Europäische Union – ein historischer Überblick

Der folgende Abschnitt werden die historischen Grundlagen aufgearbeitet, die es uns im Anschluss ermöglichen werden, den Nationalstaat bzw. die Europäische Union als Bezugsrahmen für Diskurse näher zu betrachten. Zum ersten geben wir einen historischen Überblick über das Konzept "Nationalstaat". Die Entwicklung des Konzeptes soll nicht an einem Fallbeispiel gezeigt werden, vielmehr die politischen Bewegungen, welche die Ausgestaltung moderner Nationalstaaten erst möglich machten sind für uns zentral. Somit betrachten wir die Entwicklung geschichtsphilosophisch, indem wir nicht nicht auf soziologische, sondern vielmehr auf politische Entwicklungsschritte und Konzepte eingehen.

Zum zweiten beschreiben wir in diesem Abschnitt die Entwicklung der Europäischen Union. Auch wenn die Gründung der EG in die späten 50er Jahre zurückgeht und die ihr vorangehenden gemeinschaftlichen Verträge noch gut zehn Jahre älter sind, der Zeitraum also weiter gefasst werden muss, als eigentlich Gegenstand unserer Untersuchung wäre, sind diese Entwicklungen für das bessere Verständnis notwendig. Besondere Beachtung schenken wir dabei den beiden Politikfeldern Sicherheitspolitik und Sozialpolitik. Die Entwicklung der Sozialpolitik ist dabei aus zwei Gründen interessant. Einerseits musste die soziale Solidarität einer verstärkten Ausgrenzungspolitik weichen, andererseits bietet die Sozialpolitik als wichtiger innenpolitischer Bestandteil staatlicher Politik Aufschluss über den Grad der Integration.

4.2.1 Die Ursprünge und Entwicklung des Konzept des modernen Nationalstaates102

Der moderne Nationsbegriff geht auf die französische Revolution zurück. Damals wurde die enge Verknüpfung zwischen "Nation" und "Volk" und "Nation" und "Demokratie" hergestellt. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts, welches für die Ausgestaltung des modernen Nationalstaates bestimmend war, ergibt sich im Sprachgebrauch allmählich die Übereinstimmung von Staat und Nation. Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der grossen politischen Bewegungen. Nachdem Politik bis anhin Aufgabenbereich der Regierungen und der ständischen sowie kirchlichen Organisationen gewesen war, beginnen nun liberale, nationale, konservative, demokratische und sozialistische Strömungen breitere Bevölkerungsschichten zu erfassen. Die Gesellschaft selbst wird politisch und versucht, politische Entscheidungen mitzutragen und zu beeinflussen. Die politischen Auseinandersetzung befassen sich vor allem mit der Frage, wie der Staat und die Gesellschaft umgestaltet werden sollen. Den grössten Erfolg in der politischen Auseinandersetzung hatten die liberale und die nationale Bewegung.

Mit dem Begriff Liberalismus wird seit dem 19. Jahrhundert eine freiheitlich-fortschrittliche bürgerliche Bewegung bezeichnet. Ursprünglich stammen die Forderungen des Liberalismus von naturrechtlichen und aufklärerischen Ideen ab. Diese wurden im Liberalismus in die Freiheit des einzelnen, in Demokratie und in die freie Wirtschaft übersetzt. Ab etwa 1815 wurde mit dem Begriff Liberalismus zudem die Überzeugung verbunden, dass eine Staatsform nur dann rechtmässig sein können, wenn sie auf Volkssouveränität beruhe und die individuellen Freiheitsrechte der Bürger respektiere103. Die individualistische Prägung des Liberalismus begünstigte eine misstrauische Haltung gegenüber staatlichen Einrichtungen und allgemein staatlicher Intervention, was sich natürlich bis in wirtschaftliche Bereiche erstreckte. Unternehmer wurden denn auch zu Unterstützern der liberalen Bewegung, da diese die für die wirtschaftliche Entwicklung notwendigen Voraussetzungen begünstigte.

Die Stosskraft des Liberalismus beruhte darauf, dass der Liberalismus viele Nuancen besass und somit ein breites Feld zwischen Konservativismus und demokratischer Bewegung abdecken konnte. Jede dieser Ausprägungen hatte zum Ziel, den einzelnen von unnötigen Bindungen sowohl staatlicher als auch gesellschaftlicher Natur zu befreien, um ihm zu ermöglichen, die eigenen Fähigkeiten ungehindert entwickeln zu können und damit dem allgemeinen Fortschritt zu dienen. Wo genau die Grenze der Freiheit liegen sollte, waren sich die Exponenten der einzelnen Strömungen des Liberalismus nicht unbedingt einig. Der wirtschaftliche Liberalismus hatte dabei eine grössere Anhängerschaft, auch unter Konservativen, als der politische Liberalismus, dessen Forderung nach Freiheit und Selbstbestimmung vielen zu weit ging.104

Noch stärker als der Liberalismus bewegte der Nationalismus die politischen Bewegungen im 19. Jahrhundert. Als ursprüngliches, identitätsstiftendes und integrierend wirkendes Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Ort, zu Menschen mit derselben Geschichte, wurde er im ausgehenden 18. Jahrhundert, als erstmals breitere Bevölkerungsschichten politisiert wurden, zum zentralen politischen Konzept. Seine grösste Durchsetzungskraft erhielt der Nationalismus dort, wo noch keine einheitliche Staatsform erreicht war und da seine Grundideen auf den politischen Strömungen der Zeit beruhten – etwa der Volkssouveränität oder der Idee vom Volkstum –105 konnte der Nationalismus mit allen politischen Strömungen der Zeit Allianzen eingehen, was seine Stosskraft zusätzlich verstärkte. So ermöglichte die Verbindung von nationalistischen und liberalen Strömungen die Augestaltung der modernen Nationen; Nation als politisch geeintes Volk, welches gleichzeitig einem Machtgebilde entspricht, worin bestimmte Macht-, Prestige- und Kulturansprüche vereint sind.

Für die Gesellschaften in modernen Nationen dieses Jahrhunderts wird zusätzlich zu den oben genannten Faktoren die Wirtschaft immer bestimmender.

4.2.2 Die Entstehung der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der sozial- und sicherheitspolitischen Felder

Die Idee eines geeinten Europas, welche gut 200 Jahre alt ist, beruhte auf dem Wunsch nach Frieden und Wohlstand. Gemeinsam festgelegte Ziele sollten kriegerische Auseinandersetzungen verhindern, und allfällige Handelshemmnisse, wie Zölle oder regional unterschiedliche Währungen, sollten durch einen Zusammenschluss minimiert und so das Florieren der Wirtschaft gefördert werden. Nach dem zweiten Weltkrieg, als die kriegsversehrten Länder Europas mit dem Wiederaufbau im Innern und der vorsichtigen Annäherung nach aussen begannen, erlebte die Idee des geeinten Europas den Durchbruch. Man versprach sich von der Zusammenarbeit vor allem ein reduziertes Konfliktpotential für die Zukunft; insbesondere die Einbindung Deutschlands in eine festgefügte Gemeinschaft europäischer Staaten sollte die Gefahr erneuter Expansionsgelüste verhindern.

Im Jahr 1946 forderte Winston Churchill die EuropäerInnen in seiner Zürcher Rede auf, "etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa"106 zu schaffen, um die Wiederannäherung der durch den Krieg getrennten und verfeindeten Staaten voranzutreiben. Die USA unterstützten den Wiederaufbau Europas durch den Marshallplan, an den allerdings als Bedingung eine Zusammenarbeit aller beteiligten europäischen Staaten geknüpft war. 1947 wurde die "Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit" (OEEC, ab 1961 OECD) gegründet.107 Anfangs der 1950er Jahre wurde auf Bestreben des französischen Aussenministers Robert Schumann die "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" gegründet (EKGS). Die deutsche und die französische Produktion von Kohle und Stahl wurde einer "Hohen Behörde" unterstellt; alle übrigen Staaten Europas waren zutrittsberechtigt. Nicht ausschliesslich wirtschaftliche Gründe waren dafür ausschlaggebend. Ein Ziel war die Beseitigung der deutsch-französischen Feindschaft; das zweite war die Schaffung von Grundlagen für eine europäische Föderation. Darüber hinaus versprach man sich von diesem Schritt die Sicherung der Kontrolle über den Verwendungszweck von Kohle und Stahl; somit konnten unbemerkte Kriegsvorbereitungen verhindert werden. Unterschrieben wurde dieser Vertrag von Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Italien und Luxemburg. Gleichzeitig unterschrieben die sechs Gründerstaaten die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sowie die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG). Die Ratifizierung dieser Verträge scheiterte allerdings an der ablehnenden Haltung Frankreichs. Doch bereits 1951 rissen europabegeisterte StudentInnen in spektakulären Aktionen Schlagbäume zwischen der BRD und Frankreich nieder. Die Grenzbefestigungen wurden zwar schnell wieder aufgebaut, doch zumindest Teile der Bevölkerung Europas unterstützten die ersten Bestrebungen der Politiker auf dem Weg zur einem geeinten Europa.

Mitte der fünfziger Jahre entstanden schliesslich auf Initiative der Benelux-Staaten der Vertrag zur Gründung der "Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" (EWG) und jener über die "Europäische Atomgemeinschaft" (EAG, EURATOM). Diese Verträge, die Römerverträge, wurden im Mai 1957 in Rom unterzeichnet und traten am 1. Januar 1958 in Kraft.

In den ersten Jahren nach 1958 gelang es der EG, innergemeinschaftliche Schranken auf dem Weg zur Wirtschaftsgemeinschaft abzubauen. Die sechs Mitgliedstaaten konnten sich auf eine gemeinsame Agrarpolitik sowie auf eine erste Harmonisierung im Währungs- und Zollbereich einigen. In den Römerverträgen wurde ausserdem angekündigt, dass "(...) die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten (...)"108 zu den erklärten Zielen der Gemeinschaft gehörten. Verhandlungen zur Umwandlung der EG in eine politische Union blieben jedoch im Sande stecken. Erst 1972 wurde die Absicht zur Gründung einer politischen Union festgehalten.

1974 wurde die Idee eines "Europas der Bürger(innen)" erstmals offiziell gehandelt. Am europäischen Gipfel von Paris brachten Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten ihren Willen zum Ausdruck, die Gemeinschaft solle nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern auch für einzelne BürgerInnen spürbare positive Folgen haben, ihnen besondere Rechte einräumen. Die Kommission wurde beauftragt, Vorschläge für eine Passunion auszuarbeiten, die den Abbau der Binnengrenzkontrollen erleichtern sollte. Vorgeschlagen wurde ein Vorgehen in zwei Schritten. Zuerst sollten die Grenzkontrollen erleichtert werden, was mittels eines einheitlichen Passes und Stichproben anstelle von systematischen Grenzkontrollen der Angehörigen der Mitgliedstaaten geschehen sollte. Dann, in einem zweiten Schritt, sollte die tatsächliche Beseitigung der Grenzkontrollen erfolgen. Doch schon der erste Schritt, obwohl nicht als verbindlicher Rechtsakt vorgesehen, scheiterte an der ablehnenden Haltung der Mitgliedstaaten: Während Regierungschefs im folgenden bei Diskussionen über den Abbau der Grenzkontrollen und die Einführung des freien Personenverkehrs den Diskurs der Kontrollfreiheit pflegten, wiesen die Erklärungen der Polizei und der Sicherheitspolitiker auf einen zu erwartenden Sicherheitsverlust hin und forderten entsprechende Ausgleichsmassnahmen. Eine Einigung auf europäischer Ebene war unmöglich, deshalb entschlossen sich zunächst Frankreich und die BRD, nur eine Woche nach diesem ablehnenden Entscheid, mittels eines bilateralen Abkommens den Abbau zu verwirklichen.

Dies jedoch nur, wenn gewisse Auflagen erfüllt seien:

"• im Bereich Polizei/"innere Sicherheit": Zusammenarbeit bei der elektronischen Fahndung, Informationsaustausch zwischen den "zentralen Sicherheitsbehörden", Vereinfachung von Rechtshilfe und Auslieferung, Genehmigung der sog. Nachteile sowie Angleichung im Betäubungsmittel-, Waffen- und Melderecht;

• im Bereich "Ausländerangelegenheiten": eine Anerkennung des von einem Vertragsstaat ausgestellten Visums durch den/die anderen bzw. ein gemeinsames Visum für alle Staaten, eine Vereinheitlichung der Visumspflicht, ein Informationsaustausch über unerwünschte Ausländer, ein Beförderungsverbot für Personen, die nicht die geforderten Einreisevoraussetzungen erfüllen, bzw. die Pflicht zum Rücktransport, Erleichterung der Zurückschiebung in andere Vertragsstaaten etc."109

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stagnierte die europäische Integration. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise wird verständlich, weshalb das Ökonomische und das Verhaftetbleiben am Nationalstaatsgedanken bessere Perspektiven boten als ein supranationaler Zusammenschluss. Trotzdem öffnete das bilaterale Abkommen zwischen Frankreich und Deutschland die Verhandlungsbereitschaft. Ab 1982 wurde an Tagungen des Europäischen Rates immer wieder von der Vollendung des Binnenmarktes und damit auch über den Abbau der Binnengrenzen gesprochen und 1984 trafen sich EG- und EFTA-Minister, um über die Zukunft Europas zu diskutieren. Der Grundgedanke des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), die wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas, wurde damals formuliert.

Die Kommission schlug daraufhin am 23. Januar 1985 eine Richtlinie vor, die wie die deutsch-französische Initiative die Erleichterung der Grenzkontrollen innerhalb der ganzen Gemeinschaft verwirklichen sollte. Diese Richtlinie konnte im Rat keine Mehrheit finden. Zurückzuführen war dies in erster Linie auf den Widerstand von Grossbritannien, Irland und Dänemark. Eine gesamtgemeinschaftliche Einigung in der Frage des Abbaus der Grenzkontrollen war damit vorerst gescheitert. Trotzdem wurde am 14. Juni 1985 von den Benelux-Staaten, der BRD und Frankreich das erste Schengener Übereinkommen unterzeichnet. Sie entschieden sich somit zu einem gesonderten Vorgehen betreffend des schrittweisen Abbaus der Grenzkontrollen.

Im selben Jahr wurde die EG-Kommission beauftragt, einen detaillierten Vorschlag für die Erreichung der Vollendung des Binnenmarktes bis Ende 1992 auszuarbeiten. Auf der Grundlage des im Jahr 1985 erschienenen Weissbuchs und verschiedener Konferenzen entstand schliesslich die Einheitliche Europäische Akte (EEA)110, in der die Vollendung des EG-Binnenmarktes bis Ende 1992 festgelegt wurde. Im Februar 1986 wurde die EEA unterschrieben und trat am 1. Juli 1987 in Kraft. Kernstück darin ist der neu eingefügte Artikel 8a des EWG-Vertrages:

"Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Massnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 (...) den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen. Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäss den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist."111

In erster Linie war es ein wirtschaftlicher Impuls, der die europäischen Staaten zur Kooperation trieb. Nicht die Justiz- und Innenpolitik oder die Sozialpolitik wurden Kern der Gemeinschaft, sondern die Wirtschafts- und Währungsunion. Bis die Zusammenarbeit im Bereich der Justiz- und Innenpolitik auf supranationaler Ebene konkret verankert wurde112, scheiterten etliche Versuche an der mangelnden Bereitschaft der Mitgliedsstaaten, neben dem freien Warenverkehr auch den freien Personenverkehr ins Auge zu fassen. Was als "vier Freiheiten" in der Literatur sowie in den Medien auftauchte, war in Wirklichkeit in erster Linie eine wirtschaftliche Angelegenheit. In der Verwirklichung des freien Warenverkehrs, beispielsweise beim Abbau und der Vereinheitlichung von Zöllen sowie allen weiteren materiellen, technischen und steuerlichen Schranken, wurden schnellere Fortschritte gemacht als bei der Realisierung des Abbaus der Binnengrenzen. Da für die Abschaffung der Kontrollen im Personenverkehr weder Veränderungen technischer Natur, noch Bestimmungen im Umwelt- und Gesundheitsschutz, noch Anpassungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vonnöten waren, hätten diese eigentlich einfacher und schneller erfolgen müssen als im Warenverkehr; nicht zuletzt auch deshalb, da Aufenthaltsrechte und Arbeitserlaubnisse von EU-BürgerInnen in anderen Staaten der Gemeinschaft schon seit den Römer Verträgen garantiert waren.

Schon 1987 wurde in der EEA, durch den Artikel 8a EWGV (heute Artikel 7a EGV), die Idee des freien Personenverkehrs ohne Kontrollen zwischen den verschiedenen europäischen Staaten eingeführt; doch erst im 2. Schengener Abkommen, das am 26. März 1995 in Kraft trat, waren unmittelbare Verpflichtungen zur Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen zwischen den Vertragsparteien enthalten. In einer Zeit, in der die Innere Sicherheit zu einem der wichtigsten innenpolitischen Probleme verschiedener europäischer Staaten gezählt wurde – und bis heute ein Hauptpunkt der Diskussion um die EU bleibt – sollen die als Sicherheitsgarantie geltenden Grenzkontrollen abgeschafft werden. Dass dies nicht ohne sogenannt "flankierende Massnahmen" geschehen konnte, liegt aus den oben genannten Gründen auf der Hand. Das Schengener Abkommen erfasst auf der einen Seite Sachbereiche, die notwendigerweise im Gefolge des Abbaus von Grenzkontrollen geregelt werden müssen. Zudem werden in anderen Sachbereichen weitergehende, allgemeine Massnahmen getroffen, die im Zusammenhang mit der immer stärkeren internationalen Verflechtung als sinnvoll und notwendig erachtet werden.

Interessant ist, dass gegenüber dem eigentlichen Ziel, dem Abbau der Personenkontrollen, diese Ausgleichsmassnahmen einen viel höheren Stellenwert bekamen, sich als die konkretere Perspektive erwiesen haben als das Konzept des freien Personenverkehrs und sich so heimlich zu einer gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik der EU-Staaten verselbständigten. Dieses offensichtliche Ungleichgewicht zwischen der unscheinbaren vierten Freiheit des EU- Binnenmarktes und den damit verbundenen politischen Forderungen nach mehr Kontrolle und Sicherheit wurde bis anhin kaum in Frage gestellt.

Im Gegensatz zu der "ausbaufähigen" Justiz- und Innenpolitik stagnieren die Bemühungen, eine einheitliche Sozialpolitik zu verabschieden, seit langem. Allfällige Erfolge sind nur halb so bedeutsam, wie sie von den Verantwortlichen hingestellt werden. Die Europäische Sozialpolitik beschränkte sich bis zur Verabschiedung des ersten "Sozialen Aktionsprogramms" im Jahr 1974 auf die Aktivitäten des Europäischen Sozialfonds. Der Europäische Sozialfond sollte laut Vertrag einen Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitnehmer liefern. Er wurde im Jahre 1960 eingerichtet und diente anfangs vorwiegend der Finanzierung von Umschulungs- und Umsiedlungsmassnahmen. Die Mittel flossen vor allem in die Kassen der "reicheren", bei der Antragstellung geschickteren Mitgliedsstaaten; so erhielt bis 1972 die Bundesrepublik Deutschland etwa die Hälfte des ausgezahlten Geldes. Ab 1972 sorgten nationale Quoten dafür, dass die Mittel wirklich den ärmeren Mitgliedstaaten zugute kamen. Anfangs der achtziger Jahre wurde das Geld vor allem für die Eingliederung arbeitsloser Jugendlicher in das Berufsleben verwendet.

Das "Sozialen Aktionsprogramm", welches von den Arbeits- und Sozialministern der Mitgliedsstaaten verabschiedet wurde, enthielt drei Aktionsfelder, in der die EG aktiv werden sollte. Es waren dies die Bereiche Beschäftigungsfragen, Fragen der Angleichung von Lebens- und Arbeitsbedingungen und Beteiligung der Sozialpartner an sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen der EG.113 Damit wurde ein weiterer Schritt zur Verwirklichung gemeinsamer politischer Ziele vorgenommen.

Die eigentliche europäische Sozialpolitik begann somit im Jahre 1974 mit der Verabschiedung des ersten "Sozialen Aktionsprogramms". Schwerpunkte der Sozialpolitik der späten 1970er Jahre waren spezifische Aktionsprogramme etwa zu Sicherheit und Schutz am Arbeitsplatz, zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen und zur Eingliederung benachteiligter Gruppen in das Arbeitsleben. Dabei konnten sich diese sozialpolitischen Aktivitäten kaum auf spezifische Rechtsgrundlagen berufen. Die sozialpolitischen Programme beruhten auf folgenden zwei Artikeln und setzten immer einstimmige Entscheidungen im Rat der Europäischen Union voraus:

"Artikel 100 EGV (Rechtsangleichung):

Der Rat erlässt einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des gemeinsamen Marktes auswirken."114

"Artikel 235 EGV (Vorschriften zur Verwirklichung der Ziele des Gemeinsamen Marktes):

Erscheint ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich, um im Rahmen des gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und sind in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften."115

Auch die Einheitliche Europäische Akte hat die Kompetenzen im sozialpolitischen Bereich bis heute kaum erweitert. Darin vorgesehen sind nur Massnahmen zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, die der Rat mit qualifizierter Mehrheit in Zusammenarbeit mit dem europäischen Parlament erlassen kann.116

Die Europäische Sozialpolitik drohte während der Verhandlungen zum Vertrag über die Europäische Union wegen der britischen Weigerung, eine Ausdehnung der Zuständigkeit der EG zuzustimmen, zum Stolperstein zu werden. Man fand schliesslich einen Kompromiss, der es allen Mitgliedstaaten ausser Grossbritannien ermöglichte, Organe, Verfahren und Mechanismen der Verträge für eine weitergehende gemeinsame Sozialpolitik zu nutzen. Die Ziele gehen jedoch kaum über den EG-Vertrag hinaus.

Die Sozialcharta, die im Dezember 1989 vom Europäischen Rat gegen die Stimme Grossbritanniens verabschiedete "Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte", sollte die soziale Dimension des Binnenmarktes betonen und fördern. Aus dem ehrgeizigen Ziel der Charta wurde jedoch, nach unzähligen Verhandlungen im Rat, nur eine unverbindliche politische Willenserklärung über eine Anzahl sozialer Grundrechte.

Das Ziel der "Sozialunion" ist noch weit entfernt. Wichtige Bereiche des Sozial- und Arbeitsrechts sind noch immer rein national geregelt. Die Diskussion der Zukunft der Europäischen Sozialpolitik ist jedoch in vollem Gange. Wegweisend wird dabei nicht nur der globale Ansatz der Fragestellung sein, sondern vor allem die Tatsache, dass auf europäischer Ebene über die Zukunft eines europäischen Gesellschaftsmodells diskutiert wird, was ein wichtiger Schritt zu einer Verständigung über die Ziele und die Intensität einer europäischen Sozialpolitik ist.117

Die Europäische Union ist also in erster Linie noch immer wirtschaftliche Union. Die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten stehen weitgehend im Vordergrund. Erst der Maastrichter Vertrag von 1992 legte die Grundsteine für eine politische Union. Die Europäische Union ist also gewissermassen ein Experimentierfeld; Institutionen, Verwaltung, der ganze staatlich-politische Bereich muss erst neu organisiert und begründet werden. Diese Situation ist natürlich höchst interessant, da die Frage nach der Priorität der zu schaffenden Institutionen in die Prioritäten der anstehenden politischen Probleme Einblick gibt. Wir können beobachten, dass noch immer das Problem der "Inneren Sicherheit" ungleich stärker gewichtet wird, als die schon lange bestehenden Forderungen nach der "sozialen Dimension" des Binnenmarktes. In der EU stand die Sozialpolitik nie an erster Stelle; jedoch war sie von der Mitte 1970er Jahre bis zur Verabschiedung der EEA eher konkretes Thema in den Verhandlungen, als dies in den letzten Jahren der Fall war. Die gewaltigen Probleme im Innern der EU, die lauter werdenden Stimmen über die Zukunft und die Existenzberechtigung eines so riesigen Gebildes nahmen in der vergangenen Zeit überhand. Gefragt sind politische Perspektiven, welche den Zusammenhalt der EU verstärken und ihr eine neue Legitimität zuführen. Die Justiz- und Innenpolitik im Sinne einer Politik der Inneren Sicherheit bietet sich aus verschiedenen Gründen dafür an. Der sicherheitspolitische Paradigmawechsel führt dazu, dass die Sozialpolitik die Funktion einer politischen Klammer nicht übernehmen kann. Die Diskurse um Migrationsprobleme und organisierte Kriminalität sowie die Verlagerung der Lösungsansätze sozialer Probleme auf den Scheinschauplatz der Überfremdung bewirken eine Akzeptanz repressiver sicherheitspolitischer Entscheide, die integrierend wirkt. Zudem wurde der Justiz- und Innenpolitik im Kontext des Projektes der "vier Freiheiten" politisch und administrativ der Weg bereits geebnet.

Diese Punkt werden wir im Kapitel 5 erneut aufgreifen und im Zusammenhang mit den Diskursen um die Innere Sicherheit detaillierter behandeln.

4.3 Globalisierungstendenzen?

"Globalisierung war lange Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, tatsächlich nur eine untergründige marktwirtschaftliche Tendenz, jedoch nicht die alltagsweltlich erfahrbare Wirklichkeit selbst. (...) Was also ist das Neue der Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu den schon Jahrhunderte alten Globalisierungstendenzen?"118

Der Begriff der "Globalisierung"119 beherrscht die aktuellen Diskussionen. Vor allem beängstigt die soziale Sprengkraft, die in den mit der Globalisierung einhergehenden Entwicklungen liegt. Denn obwohl tatsächlich eine Homogenisierung von Standards, Normen, Werten und Regulationsmustern beobachtet werden kann und damit Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen territorial verfassten und nationalstaatlich zusammengefassten Gesellschaften mehr und mehr verschwinden, liegt der Ursprung der Globalisierung im ökonomischen Bereich, bedeutet vor allem Deregulierung und bewirkt eine Schwächung des politischen Gestaltungsvermögens der Nationalstaaten gegenüber den Kräften des Marktes.120 Die Konkurrenz, welche zwischen den einzelnen Staaten oder Staatsgebilden im Bereich der Wirtschaft spielt, ist getragen davon, dass der globale Markt die Standards der Produktion vorgibt, diese am Standort selber verwirklicht werden müssen und so eine Konkurrenz zu anderen Standorten entsteht:

"Wo im ökonomischen Raum Konkurrenz zwischen Marktakteuren ihr Handeln bestimmt, da wäre im politischen Raum Kooperation, Konsens, Anerkennung zwischen Staatsbürgern in ziviler (Welt)gesellschaft verlangt. Das ist schwierig, vielleicht ausgeschlossen."121

Auswirkungen hat die Konkurrenz auf den Wohlfahrtsstaat, denn dieser verursacht Kosten, die sich negativ auf Standortvorteile auswirken. Der Abbau der Sozialleistungen wird zudem ungleich vorgenommen, indem Kriterien wie Rasse, Ethnie oder Religion u.ä. ausschlaggebend werden.122 Für unsere Fragestellung bedeutsam ist zudem, dass Arbeitslosigkeit oder steigende Anforderungen an arbeitnehmende Individualisierungsprozesse verstärken und die Unsicherheit der Individuen zunehmen lassen, was durch den Abbau der Institutionen der öffentlichen Dienstleistungen zusätzlich verstärkt wird.

Die Entwicklungen auf globaler Ebene verlaufen demnach in gewissen Bereichen nahezu parallel zu derjenigen in der Europäischen Union. Die Globalisierung bleibt vor allem ein weltweites Ausrichten bezüglich des Marktes. Die politische Entwicklung hat, wenn überhaupt erst ansatzweise begonnen. Vor diesem Hintergrund überraschen denn auch die Ergebnisse der empirischen Analyse wenig.

4.3.1 Der Nationalstaat als Bezugsrahmen für Diskurse

Wir haben gesehen, dass die Öffentlichkeit für Diskurse massgebend ist. Der Begriff der Öffentlichkeit wird in modernen demokratischen Staaten häufig im Sinne der politischen Öffentlichkeit verstanden.123 Das politische Steuerungssystem hat in modernen Staaten eine Sonderstellung. Gemäss Lepsius124 strukturieren sich demokratische Nationalstaaten durch vier Merkmale: Kompetenzallokation, Ressourcenallokation, Kontrollallokation und Legitimationsallokation. Die Regierung, welche erstens auf Zeit das Recht besitzt, verbindliche Entscheidungen zu treffen, zweitens durch Steuereinnahmen über Ressourcen zur Strukturierung der Gesellschaft verfügt und drittens die Möglichkeit hat, die Befolgung ihrer verbindlich getroffenen Entscheidungen allenfalls mit Gewalt durchzusetzen, ist von der Legitimierung der Bevölkerung abhängig. Damit diese Legitimierung überhaupt stattfinden kann, muss eine politische Öffentlichkeit vorhanden sein, denn:

"Über die Öffentlichkeit vermittelt beobachten sich Bürger, Interessengruppen und politische Entscheidungsträger wechselseitig und die Gesellschaft insgesamt. Öffentlichkeit ist gleichsam der Bildschirm, auf dem sich Akteure wechselseitig beobachten und ihre Handlungen an diesen Beobachtungen orientieren. In dieser intermediären Funktion dient Öffentlichkeit erstens der Vermittlung von Interessen, indem die auf dem Bildschirm erscheinenden Interessen der Bürger von den Entscheidungsträgern aufgenommen und in Politiken transformiert werden. Öffentlichkeit dient zweitens der Konstitution einer Identität der Gesellschaft, indem Bürger über Öffentlichkeit vermittelt dauerhaft die Gesellschaft beobachten, an ihr teilhaben und sie als die ihre begreifen.125 Diese intermediäre Funktion von Öffentlichkeit ist ihre zentrale Aufgabe in demokratischen Nationalstaaten."126

Die Interessenvermittlung und die Bildung von Identität sind also zentrale Punkte, die eine politische Öffentlichkeit übernimmt. Auf das Problem der Interessenvermittlung werden wir im Abschnitt über Demoskopie kurz eingehen.

Das identitätsstiftende Moment der Öffentlichkeit, welche durch das Teilhaben an und das Beobachten von gesellschaftlichen Prozessen gebildet wird, wird von Diskursen beeinflusst und hat seinerseits wieder eine Wirkung auf Diskurse. In diesem Sinne können wir die Öffentlichkeit als selbstreferentielles System verstehen.

Neben der massenmedial generierten Öffentlichkeit hat der demokratische Nationalstaat durch seine historisch-soziale Tradition einen Einfluss auf den öffentlichen Raum. Die Demokratisierung veränderte die politische Öffentlichkeit. Waren vor zwei Jahrhunderten

"zum politisch räsonierenden Publikum (...) nur Privateigentümer zugelassen, denn deren Autonomie wurzelt in der Sphäre des Warenverkehrs und geht darum auch mit dem Interesse an ihrer Erhaltung als einer privaten Sphäre zusammen (...);"127

nimmt in der Gegenwart eine breite Öffentlichkeit auf "die Öffentlichkeit" Einfluss. Die demokratischen Partizipationsformen in modernen Gesellschaften erlaubt die Einbindung aller (vom Staat für mündig erklärten) Personen in den politischen öffentlichen Diskurs.128

Nicht nur die Bevölkerung wird durch die Diskurse des öffentlichen Raums berührt ( und vice versa). Neben den Massenmedien, deren Stellenwert wir bereits kurz skizziert haben, besitzen weitere staatliche und nichtstaatliche Institutionen Einfluss und werden ihrerseits von dieser Öffentlichkeit beeinflusst.

4.3.2 Die Europäische Union als Bezugsrahmen für Diskurse

Die Entwicklungsschritte zur Europäische Union haben wir bereits in einem historischen Abschnitt behandelt. Im vorliegenden Abschnitt soll es darum gehen, die Besonderheiten der EU herauszuarbeiten.

Die "europäische Integration" ist zwar erklärtes Ziel der europäischen Eliten, doch stellt sich die Situation in der EU (noch) nicht so dar wie in den Nationalstaaten. Die europäische Integration muss als Staatsbildungsprozess verstanden werden, der sich zwar nicht mit historischen Staatsbildungsprozessen vergleichen lässt, aber doch auf der Basis der westeuropäischen Staaten vollzogen werden soll.129 In seiner Form stellt dieser Staatsbildungsprozess ein Novum dar, denn:

"Die westeuropäische Integration mit dem Unionsprojekt bedeutet in einigen Hinsichten eine Fortsetzung, in wichtigen anderen aber eine Überwindung bisheriger Merkmale des westeuropäischen Staatsbildungsprozesses. Die Fortsetzung des 500-jährigen europäischen Staatsbildungsprozesses betrifft die Konzentration politisch-territorialer Herrschaft (...). Einher damit ging eine Implosion von ursprünglich 500 staatsähnlichen Gebilden auf nur zwei Dutzend (...). Andererseits hat die Union Merkmale, die bereits ein erfolgreiches, aber nicht typisches Staatsprojekt kennzeichneten (...)."130

Diese Basis sieht vor, dass die Bevölkerung über eine StaatsbürgerInnenrolle, die ihr einerseits politische Rechte zusichert und andererseits "nationale Identität" verschafft, in den Staat integriert wird. So liegt denn auch das Ziel der EU-Eliten darin, die Gesellschaft mittels einer "europäischen Staatsbürgerschaft" in die EU zu integrieren.

Auf ökonomischer Ebene ist die Entwicklung zum supranationalen Gebilde schon weit fortgeschritten. Dies verwundert auch nicht, war doch die wirtschaftliche Zusammenarbeit Grundgedanke und treibende Kraft bezüglich des europäischen Zusammenschlusses. In diesem Sinne bezeichnet Bornschier die Gesellschaft der EU als ‘Marktgesellschaft mit staatlichem Charakter’131. Mit dem Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte und der Maastrichter Verträge schritt auch die politische Einigung voran. Die Nationalstaaten haben in vielen Bereichen einen Teil ihrer Souveränität durch die Ratifizierung der Maastrichter Verträge auf die EU übertragen. Europäisches Recht steht demnach über nationalstaatlichem Recht. Um diesen Sachverhalt auf Lepsius‘ Strukturmerkmale zu übertragen, besitzt die EU weitgehende Kompetenzallokation. Die Ressourcenallokation ist ebenfalls weitgehend gewährleistet, da die EU sich seit 1975 aus eigenen Mitteln finanziert.132 Die Kontrollallokation liegt ebenfalls im Spielraum der EU. Die europäische Kommission überwacht die Anwendung der europäischen Gesetze, und der europäische Gerichtshof hat die Kompetenz, Mitgliedstaaten bei Nichtbeachtung zur Rechenschaft zu ziehen.

Diese drei Merkmale, die von staatlicher Seite vorhanden sein müssen, damit von einem modernen Staat gesprochen werden kann, besitzt die EU und setzt sie auch gemäss den europäischen Zielsetzungen ein.

Die Entwicklung der europäischen Öffentlichkeit aber, das vierte Merkmal, das gemäss Gerhards Definition letztendlich die Legitimität des supranationalen Gebildes herstellen sollte, ist bei weitem noch nicht genügend weit fortgeschritten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits liegen sie darin, dass die massenmediale Öffentlichkeit sich auf Nationalstaaten beschränkt und damit auch die Identifikation der Bevölkerung in erster Linie nationalstaatlich ausgerichtet ist. Zum zweiten sind die bisher erreichten Strukturmerkmale der EU vor allem von politischen Eliten vorangetrieben worden. Kaum jemals haben demokratische Elemente bei der Einigung eine Rolle gespielt; die Gesellschaft wurde nicht oder nur sehr beschränkt in die Entscheidungsfindung miteinbezogen. Zudem stand, wie erwähnt, hinter der europäischen Einigung ursprünglich die Idee, Friede und – vor allem – Wohlstand in Europa zu sichern. Der wirtschaftliche Impuls, also die Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion, war immer zentraler als eine gemeinsame Justiz-, Innen- oder Sozialpolitik. Der Verwirklichung der wirtschaftlichen Ziele wurden während langer Zeit auch mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den anderen Politikbereichen. Erst in den letzten Jahren wurde das Ziel eines "Europas der BürgerInnen" wenigstens ansatzweise verwirklicht.

4.4 Öffentlichkeit und öffentliche Meinung und deren Bezugsrahmen in westlichen Gesellschaften

4.4.1 Eingrenzung des Begriffs

Eine erste Eingrenzung des Begriffs der Öffentlichkeit ergibt sich aus der Unterscheidung von öffentlich und privat. Damit einher geht das Konzept eines öffentlichen Kollektivs: das Konzept der modernen, rechtlich-politischen, staatlichen Gemeinschaft. Im Kontext unserer Arbeit möchten wir Öffentlichkeit als eine Art Kollektiv verstehen, das auf Grundlage einer bestimmten Kommunikationsstruktur entstanden ist und eine Sphäre sozialen kommunikativen Handelns enthält, in der sich öffentliche Meinung bilden kann.133

Öffentlichkeit entspricht also einem Raum, in dem mittels öffentlicher Diskurse nicht nur Fragen bezüglich praktischer politischer Ausgestaltung dieses Raumes, sondern auch Fragen bezüglich des gesellschaftlichen Zusammenlebens behandelt werden.

Die öffentliche Meinung entspricht in erster Linie der Gesamtheit vielfältiger, sich oft widersprechender Ansichten, Einstellungen und Wünsche der Mitglieder einer Gesellschaft. Sie ist in der Kommunikationsebene einer Gesellschaft anzusiedeln, denn die Inhalte der öffentlichen Meinung entsprechen Symbolen, welche den Individuen die Verständigung erleichtern, wenn nicht sogar garantieren. Diese Eigenschaft hat die öffentliche Meinung mit dem Diskurs gemeinsam. Durch den Diskurs werden diese Symbole erst verbreitet; die Ausschlussmechanismen des Diskurses wirken so, dass sich ein Konsens über die "herrschende" öffentliche Meinung bilden kann, welche sich auf die Kollektivsymbole des Diskurses rückbezieht. Die öffentliche Meinung wird demnach durch Diskurse erst mit Inhalten besetzt, gleichzeitig beeinflusst die öffentliche Meinung den Diskurs.

Zudem umfasst die öffentliche Meinung die Gesamtheit aller in den Massenmedien verbreiteten Diskurse, welche ihrerseits gesellschaftliche Wirkungen hervorrufen. Insofern ist die öffentliche Meinung abhängig von ihrer eigenen Produktion und damit von ihren Handlungsträgern.

Die öffentliche Meinung ist dauernder Veränderung ausgesetzt. Sie ist ständig in Bewegung, oszilliert, verarbeitet Eindrücke, Informationen, Alltagstheorien, Diskurse und lässt dies alles wieder in die Diskurse einfliessen.

4.4.2 Funktionen der Öffentlichkeit

Unser Konzept der Öffentlichkeit als Raum, in dem nicht nur Fragen bezüglich praktischer politischer Ausgestaltung dieses Raumes, sondern auch Fragen bezüglich des gesellschaftlichen Zusammenlebens behandelt werden, ist selbstverständlich idealtypisch. Doch

"wenn die herrschenden Ideen nichts anderes sind als die Ideen der Herrschenden, oder wenn Politik nichts anderes ist als Krieg mit anderen Mitteln, oder wenn Diskurse nichts anderes sind als eine Form der Statuskonkurrenz mit sublimeren Methoden, oder eine symbolische Realitätskonstruktion so gut ist wie die andere, oder wenn moderne Gesellschaften zu komplex sind, um sich nicht einer einheitlichen und allgemeinverständlichen symbolischen Repräsentation zu fügen – dann macht es keinen Sinn mehr, nach der Realität oder Realisierbarkeit von öffentlichen Diskursen (...) zu fragen."134

"Öffentlichkeit" und "öffentliche Diskurse" haben also idealtypischen Charakter. Doch bietet uns die Modellhaftigkeit dieser Konzepte erst die Möglichkeit, unsere Fragestellung fassen zu können. Sehr fruchtbar für die Abklärung des empirischen Befundes scheint uns die Vorstellung des Raumes zu sein, in dem sich soziales kommunikatives Handeln abspielt. Traditionell werden in dieser Sphäre hauptsächlich politische oder staatliche Probleme behandelt, welche ihrerseits schon (politischen) Regelungen unterliegen können oder diesen erst zugeführt werden müssen. Die allgemeine öffentliche Verständigung ist damit nicht ausschliesslich beschränkt auf praktische Fragen der Entscheidungsfindung oder -vorbereitung; auch Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Orientierung, um normative Theorien und Werte gehören ihrerseits zu Öffentlichkeit. Die diskursive Dimension der Öffentlichkeit umfasst Fragen des kollektiven Zusammenlebens, welche durch diese Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Orientierung strukturiert werden. Grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass gegenseitige Verständigung, also Übereinkunft über die jeweiligen Ausgangspunkte vorliegt. Diese Übereinkunft wird im Idealfall soweit verfestigt, dass sie Eingang in den Basiskonsens einer Gesellschaft findet.

Diskurse können als Netz verstanden werden, welches über der Gesellschaft liegt, diese durchdringt und in gewisser Weise zusammenhält. Unter diesem Aspekt bildet der Raum der Öffentlichkeit den Rahmen des Diskursnetzes und stellt Haken zur Befestigung des Diskursnetzes zur Verfügung. Wenn nun unser empirischer Befund darauf hinweist, dass Diskurse nationalstaatlich fragmentiert sind, muss demnach auch der öffentliche Raum in erster Linie nationalstaatlich bestimmt sein.

4.4.3 Die Funktion der Massenmedien bei der Generierung von Öffentlichkeit

Öffentlichkeit ist in modernen Staaten in erster Linie eine massenmedial hergestellte Öffentlichkeit.135

Die Massenmedien bilden in der öffentlichen Sphäre einen spezialisierten Teilbereich mit komplexen Produktionsstrukturen und ebenso komplexen Wegen der Verteilung. Einerseits nehmen sie Inputs aus der Öffentlichkeit auf, verarbeiten diese und entlassen sie wieder in die Öffentlichkeit; sie nehmen also Bestandteile eines aktuellen Diskurses auf. Andererseits können sie Diskurse erst in Gang bringen, indem sie einen neuen Diskursstrang eröffnen.

Wenn wir davon ausgehen, dass Öffentlichkeit dort entsteht, wo ein Akteur vor einem Publikum kommuniziert, dessen Grenzen nicht bestimmbar sind,136 kommt den Massenmedien in der Generierung von Öffentlichkeit eine grosse Rolle zu. Sie wird durch die Massenmedien zu einer "dauerhaft bestimmenden gesellschaftlichen und politischen Grösse"137; sie bestimmt die politische Kommunikation in modernen Demokratien mit.

Massenmedien sind in erster Linie nationalstaatlich orientiert.138 Sie richten sich an die Bevölkerung eines abgeschlossenen politischen Raumes; ihre Auslandberichterstattung beschränkt sich in der Regel auf Nachrichten, die in einem mehr oder minder direkten Bezug zum eigenen Land stehen.

4.5 Verunsicherung als Thema der öffentlichen Diskurse

4.5.1 Die Rolle der Demoskopie

Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, die Rolle der Demoskopie zu demontieren und zu zeigen, welche Interessen hinter der demoskopischen Praxis stehen könnten. Wir möchten zeigen, wo die Ursprünge der Demoskopie liegen und welche Aufgaben sie in modernen Staaten übernimmt.

In den 30er Jahren dieses Jahrhunderts wurde von George H. Gallup139 auf die Notwendigkeit der Untersuchung "öffentlicher Meinung" in demokratischen Staaten hingewiesen. Dies deshalb, weil demokratische Regierungen die Pflicht haben, politische Entscheidungen so zu fällen, dass sie dem Willen der Gesellschaft entsprechen – dieser Anspruch ist schliesslich im Wort Demokratie angelegt: ’demos’, das Volk, ’kratein’, herrschen. Da aber immer ein Wissensdefizit über die Meinung der Bevölkerung besteht, müssen Anstrengungen zur Abtragung dieses Defizits unternommen werden. Dies geschehe, so Gallup, mittels Meinungsforschung sehr einfach, da diese der "schweigenden Mehrheit" eine Stimme geben kann. Denn die Demoskopie vermag, so Gallup, den Bruch zwischen Legitimitätsanforderungen des Staates und dem unausgesprochenen Willen der Bevölkerung zu überbrücken.

Analog zu diesen Entwicklungen spricht Gallup vom Wiederaufleben der "town meetings"140, der historischen basisdemokratischen Bürgerversammlungen, welche durch die Demoskopie, unterstützt von informierenden Medien, simuliert werden. Nicht nur ausgewählte BürgerInnen dürfen an den modernen town meetings teilnehmen; durch die Repräsentativitätsanforderungen der Demoskopie können die Bedürfnisse und Einstellungen jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft abgebildet werden. Unabdingbare Voraussetzung einer wirklichkeitsgetreuen Abbildung der öffentlichen Meinung muss aber, so Gallup, die Information der Bevölkerung durch unabhängige Medien sein.

"Die Fähigkeit der Meinungsforschung, einen strukturellen Gegensatz zwischen "modernen Gesellschaften" und demokratischer Regierungsform zu überbrücken, sieht Gallup damit zuallererst an die Existenz einer "Öffentlichkeit" gebunden, die einen gemeinsamen politischen Raum generiert, der überhaupt politische Diskurse ermöglicht und als deren Bestandteil auch die Ergebnisse der Demoskopie fungieren."141

So soll die Demoskopie also die Aufgabe übernehmen, die Einstellungen der Bevölkerung unvoreingenommen und wertneutral abzubilden, damit die MachtträgerInnen mittels dieser Informationen ihre Entscheidungen in Kenntnis der Einstellungen der Gesellschaft machen können. Dieses Vorgehen entspricht der Interessenvermittlung, die wir weiter oben kurz gestreift haben. Interessen der Bevölkerung werden über den öffentlichen Raum von den MachtträgerInnen aufgenommen und diese verarbeiten die Informationen zur Unterstützung der politischen Entscheidungen.

Wir gehen, wie wir schon im Kapitel 3 erwähnt haben, davon aus, dass die Antworten in den demoskopischen Eurobarometer-Studien nicht direkt die Wahrnehmung und die Einstellung der Befragten abbilden, sondern Aufschluss geben über die Verbreitung von Diskursen. Da der Wandel des Basiskonsenses selber ein Produkt von Kommunikationsprozessen ist und deshalb von Diskursen bestimmt wird und rückwirkend auf Diskurse Einfluss nimmt, scheint uns diese Annahme plausibel zu sein.

4.6 Die Auswirkungen auf den empirischen Befund

Bezugsrahmen für Diskurse ist in erster Linie der Nationalstaat. Wir vermuten aber, dass spezielle Diskurse auch gesamteuropäisch wirksam sind. Als einen dieser speziellen Diskurse ist beispielsweise derjenige der Umweltproblematik zu nennen. Weiter oben klammerten wir die Technologierisiken als generelle Verunsicherungsfaktoren aus. Wir erwähnten dabei, dass Umweltprobleme nur noch in Form kurzer Skandale die breite Öffentlichkeit bewegen. Gerade der Schutz der Umwelt, der Schutz eines bislang öffentlichen Gutes, stellt hohe Ansprüche an die Eigenverantwortung der Individuen. Das Trittbrettfahrerproblem142, also das Profitieren von Individuen von Dingen, ohne selber etwas zur Bereitstellung dieser Dinge beizutragen, ist gerade im Umweltbereich nicht zu unterschätzen. Der Nutzen umweltbewussten Handelns ist selten deutlich absehbar. Also müssen staatliche Interventionen die Partizipation erzwingen, sei es durch finanzielle Belastung oder durch Anreize für die Individuen. Zudem werden supranationale Abkommen getroffen, welche den globalen "Weg zum Gleichgewicht"143 ebnen sollen. Der Kampf gegen die Verunsicherung durch technologische Risiken ist auf global handelnde Akteuren angewiesen, da generell ein nationales Vorgehen im Umweltbereich wenig Einfluss auf die globalen Auswirkungen von Umweltverschmutzung und Technologierisiken hat. Dieses Beispiel zeigt, dass es sehr wohl Sicherheitsdiskurse gibt, welche über die Grenzen von Nationalstaaten wirksam sind.

Ein zweiter ist derjenige der "Inneren Sicherheit", auf den wir im nächsten Kapitel ausführlich zurückkommen werden.144

Obige Ausführungen zeigen ein Bild einer weitgehend inexistenten europäischen Öffentlichkeit. Einflüsse auf den europäischen öffentlichen Raum könnten diesen Ausführungen zufolge nicht gemessen werden. Wir möchten diesen Befund etwas relativieren. Unter dem Aspekt, dass Öffentlichkeit in modernen Staaten stark durch Massenmedien geprägt ist, bezeichnet Gerhards das Fehlen europäischer Massenmedien als nicht zu unterschätzender Grund für die fehlende europäische Öffentlichkeit. Wir möchten dem entgegenhalten, dass in den Nationalstaaten in den Medien über Themen, welche Europa und den jeweiligen Nationalstaat direkt betreffen, berichtet wird.145 Diese von Gerhards eher negativ apostrophierte Beobachtung kann aber auch dahingehend interpretiert werden, dass die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit dadurch auch begünstigt werden kann: In einem ersten Schritt werden die Informationen dem jeweiligen nationalen Publikum zugänglich gemacht. In einem zweiten Schritt können diese Informationen in "europäisches Identität" übersetzt werden, indem sich das Publikum aufgrund des Zusammenfallens von europäischer und nationaler Zielsetzungen problemlos mit den europäischen Zielen zu solidarisieren vermag.

Bornschiers Theorie gesellschaftlichen Wandels geht davon aus, dass ein verbindlicher Basiskonsens über die gesamte westliche Gesellschaft hinweg beobachtet werden kann. Damit ist nicht gemeint, dass alle Länder gleichgeschaltet und absolut homogen auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren; Bornschier spricht davon, dass die beobachtbaren Gemeinsamkeiten der Territorien in der westlichen Gesellschaft die Unterschiede bei weitem überwiegen.

Unsere Analyse zeigt, dass wir bei der Interpretation des empirischen Befundes differenzieren müssen. Wir konnten für den Basiskonsens-Indikator vier allgemeine Verlaufsmuster feststellen. Erstens dasjenige von Italien, Irland, Luxemburg und Belgien, das einen schon früh zersetzten Basiskonsens zeigt, zweitens jenes von Grossbritannien, das den übrigen Kurvenverläufen total widerspricht, drittens das Muster von Deutschland, Dänemark und den Niederlanden, in welchem der Indikator ein Zwischenhoch durchläuft und viertens das Muster Frankreichs, in welchem die Zersetzung seit 1970 kontinuierlich zu beobachten ist.

Der gesamteuropäische Indikator zeigt eine generelle Tendenz zur Auflösung. Das Niveau, auf dem er sich bewegt ist aber deutlich höher als jenes der ersten Ländergruppe, und deutlich tiefer, als jenes der anderen drei Gruppen.

Grossbritannien stellt den "Ausreisser" unserer Analyse dar. Dass sich der britische Indikator so stark von den anderen Indikatoren unterscheidet ist insofern interessant, als Grossbritannien auch politisch in der EU eine Aussenseiterrolle einnimmt und sich häufig gegen europäische Beschlüsse sperrt.

Bei den restlichen Indikatoren können wir trotz der Länderunterschiede und den Unterschieden im Verlaufsmuster eine Entwicklung hin zur Homogenität feststellen. Währenddem zu Beginn unserer Messungen die Indikatoren der verschiedenen Verlaufsmuster noch stark variieren, gleichen sie sich tendenziell je länger desto mehr aneinander an.

4.7 Fazit

Unsere empirische Analyse hat die kontinuierliche Zersetzung des Basiskonsenses seit 1970 bestätigt. Die Validierung unseres Basiskonsens-Indikators zeigt aber starke Effekte bezüglich der nationalstaatlichen Zugehörigkeit. In fünf von neun Ländern erklärt der nach Nationalität überprüfte Indikator mehr als der gesamteuropäische Indikator. Daraus schlossen wir, dass nationalstaatliche Diskurse eine starke Wirkung auf den Basiskonsens haben.

Voraussetzung für Diskurse ist die Existenz einer Öffentlichkeit. Diese ist nämlich der primäre Bezugsrahmen für Diskurse. Wir beschreiben "Öffentlichkeit" als eine Art Kollektiv, das auf der Grundlage einer bestimmten Kommunikationsstruktur entstanden ist und eine Sphäre sozialen kommunikativen Handelns enthält. Öffentlichkeit verstehen wir als Raum, in dem in öffentlichen Diskursen die praktische Ausgestaltung des politischen Raumes und Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens verhandelt wird. Der Raum der Öffentlichkeit bildet gewissermassen den Rahmen, in dem sich Diskurse bewegen.

In modernen Staaten wird "Öffentlichkeit" primär durch Massenmedien hergestellt. Diese haben einen nationalstaatlichen Bezugsrahmen.

Die historisch-soziale Tradition eines Nationalstaates ist nicht nur als Bezugsrahmen für die massenmediale Ausgestaltung wichtig, sondern wirkt unter anderem durch politische Partizipation oder Delegation auch direkt auf "die Öffentlichkeit".

Öffentlichkeit hat insofern identitätsstiftenden Charakter, als dass Individuen "in" der Öffentlichkeit die Gesellschaft beobachten und an ihr teilhaben. Die Identität, welche durch Öffentlichkeit generiert wird, wirkt ihrerseits zurück auf die Diskurse, welche in der Öffentlichkeit vorhanden sind.

Auf der europäischen Ebene konstatierten alle von uns konsultierten Theoretiker die Nicht-Existenz einer europäischen Öffentlichkeit. Dies bedeutet, dass auch keine gesamteuropäischen Diskurse nachgewiesen werden können. Unter dem Aspekt, dass Öffentlichkeit im modernen Staaten stark durch Massenmedien geprägt ist, beobachten wir, dass die Medien in den einzelnen Nationalstaaten über Themen, welche Europa und den jeweiligen Nationalstaat direkt betreffen, berichten. Auch wenn dies gemeinhin negativ apostrophiert wird, möchten wir darauf hinweisen, dass auch durch die Thematisierung Europas in den nationalstaatlichen Diskursen letztendlich eine europäische Öffentlichkeit begünstigt werden kann. Dies geschieht, indem in einem ersten Schritt die Informationen dem jeweiligen nationalen Publikum zugänglich gemacht werden. In einem zweiten Schritt können diese Informationen in "europäische Identität" übersetzt werden, indem sich das Publikum aufgrund des Zusammenfallens von europäischer und nationaler Zielsetzungen problemlos mit den europäischen Zielen zu solidarisieren vermag.

Wir stellen bezüglich unseres Indikators zwar Länderunterschiede fest, was unserer These, dem einheitlichen Verlauf des Basiskonsens-Indikators, widerspricht.

Der Befund unserer empirischen Analyse brachte eine ambivalente Ausrichtung unseres Indikators zum Vorschein. Denn obwohl der Basiskonsens-Indikator nationalstaatlich fragmentiert ist, entwickelt sich über die Jahre Homogenität bezüglich des Verlaufmusters der einzelnen Indikatoren. Währenddem sich die Muster um 1970 noch deutlich unterscheiden, gleichen sie sich etwa ab Mitte der 1980er Jahre aneinander an. Offensichtlich wirken ab Mitte der 1980er Jahre gesamteuropäische Diskurse auf die Indikatoren ein, welche die Homogenisierung der Indikatoren hervorrufen.

Im folgenden Kapitel werden wir uns mit einem speziellen Sicherheitsdiskurs beschäftigen: mit dem Diskurs der "Inneren Sicherheit". Im Kapitel 2 haben wir bereits davon gesprochen, dass Sicherheitsdiskurse im Tiefpunkt des Gesellschaftsmodells vorübergehend die Funktion des Basiskonsens übernehmen, vorübergehend einen Basiskonsens simulieren. Warum aber im konkreten Fall gerade die Sicherheitsdiskurse diese Funktion übernehmen und nicht Diskurse mit anderen Inhalten, haben wir an jener Stelle nicht beantwortet. Im folgenden Kapitel soll es nun darum gehen, diesen Sachverhalt aufzuzeigen.

 

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