3. Empirische Untersuchung

3.1 Fragestellung und Ziel der empirischen Untersuchung

Wir haben den Basiskonsens analysiert und dabei seine Doppelfunktion herausgearbeitet: Er umfasst eine strukturelle Seite, indem er ein Gesellschaftsmodell mit Zustimmung und Legitimität versorgt, sowie eine diskursive Seite, welche die Sicherheitsdiskurse sowohl zeitlich als auch in ihrer Intensität beeinflusst.

Die Zersetzung des Basiskonsenses löst einen Schub von Sicherheitsdiskursen aus und verstärkt dadurch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Verunsicherungsfaktoren. Wir sehen darin die Erklärung der Diskrepanz zwischen Verunsicherungsfaktoren wie der Kriminalität und der Wahrnehmung von Verunsicherung wie der Kriminalitätsfurcht.80

Wir wollen in diesem Kapitel empirisch nachweisen, wie sich der Basiskonsens seit der Krisenphase des Gesellschaftsmodells entwickelt hat. Damit lassen sich die theoretischen Erwartungen und Ausführungen der vorhergegangenen Kapitel auf eine empirische Grundlage stellen, und wir können überprüfen, ob der Basiskonsens zum Zeitpunkt des Schubes von Sicherheitsdiskursen auch wirklich zersetzt war.

Wir halten deshalb zunächst die aus der Theorie gewonnene Vorstellung über die zeitliche Entwicklung des Basiskonsenses fest, konstruieren danach einen Basiskonsens-Indikator und konfrontieren schliesslich die theoretischen Erwartungen mit den empirischen Befunden.

3.2 Theoretische Erwartung des zeitlichen Verlaufs des Basiskonsenses

Der Basiskonsens durchläuft über die Karriere des Gesellschaftsmodells einen Zyklus variabler Intensität. Zu Beginn des Gesellschaftsmodells wird nach intensiven gesellschaftlichen Konflikten und Diskursen ein neuer Kompromiss zwischen den Grundwerten gefunden. Dies ist die Geburtsstunde des Basiskonsenses. Er ist zunächst nur ein Burgfrieden81 und diffundiert alsdann mit der Entstehung des politökonomischen Regimes.

Wenn im politökonomischen Regime die Versprechungen des neuen Gesellschaftsvertrags auch eingelöst werden, findet der Basiskonsens seine maximale Verankerung in der Bevölkerung und stattet das Gesellschaftsmodell mit Massenloyalität aus. Sobald dann aber das politökonomische Regime an die Grenze seiner Problemlösungskapazität stösst, beginnt auch der Basiskonsens abzubröckeln. Dieser Auflösungsprozess dauert solange an, bis der Basiskonsens vollständig zersetzt ist.

Daran kann auch die wirtschaftliche Zwischenerholung während der Zersetzungsphase des Gesellschaftsmodells nichts ändern. Die Zwischenerholung führt zwar zeitweilig zu weniger Konflikt und zu mehr Legitimität des Gesellschaftsmodells. Die Legitimitätszufuhr basiert aber nicht auf Stabilität und Gerechtigkeit, wie es beim Basiskonsens der Fall ist. Die Zwischenerholung versieht das Gesellschaftsmodell auf der Grundlage der ersten Elemente des neuen technologischen Stils und der damit verbundenen "Faszination des Neuen"82 mit Legitimität. Diese Form der Legitimitätszufuhr hat aber mit dem Basiskonsens nichts zu tun und kann seinen Verlauf folglich auch nicht beeinflussen.

Der Übersicht halber halten wir die theoretisch begründete Vorstellung des Verlaufs des Basiskonsenses an dieser Stelle in graphischer Form fest.

Abbildung 7

Hypothesen zum Verlauf der Intensität des Basiskonsenses über die Karriere des Gesellschaftsmodells

3.3 Empirische Analyse

Diese theoretisch begründeten Hypothesen sollen jetzt einer empirischen Überprüfung unterzogen werden. Durch die Auswertung repräsentativer Bevölkerungsbefragungen wollen wir in einem ersten Schritt einen Indikator bilden, der die Stärke des Basiskonsenses repräsentieren kann. Der Indikator soll sodann für die einzelnen Jahre berechnet werden, damit wir die Veränderung der Stärke über die Zeit betrachten können. Damit sind wir in der Lage, das theoretische Modell zu verifizieren und die Hypothesen zu überprüfen.

3.3.1 Der Datensatz

Wir arbeiten mit dem kumulierten Eurobarometer-Datensatz83, der die sogenannten "Trendvariablen" enthält, welche zwischen 1970 und 1992 erhoben wurden. Er ist der einzige uns bekannte Datensatz, der eine repräsentative Untersuchung für das gesamte Gebiet der EU über einen längeren Zeitraum zulässt. Die Variablen aus den "European Communities Studies" von 1970-1973 und den Eurobarometer-Studien Nr. 3-39 wurden recodiert und zu einem einzigen Datensatz aggregiert. Er enthält Antworten von 452188 Personen, die älter als 15 Jahre sind und in einem der 12 Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft84 wohnen. Mittels einer Gewichtungsvariablen wurden die nationalen Samples so gewichtet, dass ihre Grösse dem Anteil der nationalen Bevölkerung an der gesamteuropäischen Bevölkerung entspricht. Die Samples von Dänemark, Spanien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien wurden zudem durch Gewichtung auf nationaler Ebene repräsentativ gemacht. Die Anwendung der europäischen Gewichtungsvariablen ergibt eine Grundgesamtheit von 457794 Befragten.

3.3.2 Operationalisierung des Basiskonsenses

Unser Ziel ist es, aus den Trendvariablen des kumulierten Eurobarometer-Datensatzes einen Indikator zu generieren, der den Wandel des Basiskonsenses im Längsschnitt von 1970 bis 1992 aufzeigen kann. Dies ist recht schwierig, weil die Trendvariablen allesamt unspezifisch sind und mit einem anderen Erkenntnisinteresse als dem unsrigen erhoben wurden.

Wir prüfen zunächst die Verfügbarkeit der Variablen über die Jahre hinweg; denn wir wollen mit dem Basiskonsens-Indikator Veränderungen über die Zeit beobachten können, und dafür ist es eine notwendige Voraussetzung, dass die Variablen über den gesamten Zeitraum hinweg erhoben worden sind. Die meisten Variablen wurden jedoch nur unregelmässig oder in einzelnen Jahren erhoben. Daher schieden einige Variablen aus, die von der Fragestellung her durchaus für die Bildung eines Basiskonsens-Indikators in Frage gekommen wären.85 Die Verfügbarkeit der Variablen über die Zeit haben wir im Anhang unter "7.1 Verfügbarkeit der Trendvariablen des kumulierten Eurobarometer Datensatzes ICPSR No. 9361" dargestellt. Für die Konstruktion des Basiskonsens-Indikators sind folgende Variablen übrig geblieben: V4 (overall life satisfaction), V6 (democracy satisfaction), V8 (amount of social change desired), V9/V10 (country goals) und V13 (left-right-placement). Warum nicht alle diese Variablen in die Konstruktion des Indikators eingeflossen sind, werden wir weiter unten erörtern.

Ein anderes Problem, das wir berücksichtigen müssen, ist, dass im standardisierten Interview und den daran anschliessenden empirischen Verfahren der statistischen Auswertung sämtliche individuellen Färbungen und Konnotationen der Antworten wegfallen. In der statistischen Auswertung führt dies zur ständigen Verletzung der impliziten Annahme, dass verschiedene Personen dasselbe meinen, wenn sie auf eine standardisierte Frage antworten.86 Die Antworten werden schliesslich mathematischen Operationen unterzogen, die voraussetzen, dass zwei verschiedene "Ja" dasselbe messen, was aber nicht der Fall ist. Wir erwähnen diese Unzulänglichkeiten der empirischen Methoden an dieser Stelle, um festzuhalten, dass wir nicht in der Lage sind, den Basiskonsens "abzubilden", sondern lediglich einen Indikator, einen statistischen Artefakt, konstruieren, der als Hinweis auf den Basiskonsens interpretiert werden kann.

Die Antworten auf Fragen aus der Eurobarometer-Studie widerspiegeln auch nicht einfach die Wahrnehmungen der befragten Personen, sondern geben Aufschluss über die Verbreitung von bestimmten Diskursen. Sie lassen also keine direkten Rückschlüsse auf die "tatsächlichen" Einstellungen der Befragten zu, sondern sind selber eine Form des Diskurses. Wenn wir aus den Variablen des kumulierten Eurobarometer-Datensatzes einen Indikator bilden, so werden wir damit weniger einen Hinweis auf kumulierte individuelle Einstellungen haben als auf die Verbreitung von Diskursen, welche sich im kollektiven Antwortverhalten niederschlagen. Das ist ganz in unserem Interesse, weil der Wandel des Basiskonsenses, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, selbst ein Produkt von Kommunikationsprozessen in der Form von Diskursen ist und auf Diskurse zurückwirkt.

Die Überlegung zur Konstruktion dieses Indikators ist die folgende: Wenn die Fragen, welche die Meinungen zur Gesellschaftsstruktur erheben, zunehmend heterogener beantwortet würden, so wäre dies ein Hinweis auf ein Aufbrechen des Nachkriegskonsenses und auf zunehmenden Dissens bezüglich der erfragten Themen. Dies entspräche dem Aufbrechen des Basiskonsenses über die Zeit.

Eine Möglichkeit, diese Überlegungen in einen konkreten Indikator zu übersetzen, besteht darin, zu betrachten, wie stark sich die Kohärenz des klassischen politischen Feldes auflöst. Die Variable V13 (left-right-placement) operationalisiert die Verortung der Befragten auf einer zehnstufigen Links-Rechts-Skala. Die Einteilung von politischen Ansichten in linke und rechte Positionen entspricht einem Politikverständnis, das im ganzen ausgehenden Gesellschaftsmodell gültig war. Wenn sich jemand auf dieser Skala selber plaziert, so zeigt dies sowohl die politische Selbsteinschätzung als auch die Akzeptanz dieser Art der Klassifikation von politischen Positionen.87

Wenn also V13 (left-right-placement) tatsächlich ein kohärentes Muster von politischer Selbsteinschätzung misst, so sollten auch politische Einschätzungen, welche eng an die Konzepte der politischen Linken und Rechten geknüpft sind, kontinuierlich mit dieser Skala verknüpft sein.

Als Variablen, die politische Einstellungen zu Bereichen messen, die mit der Links-Rechts-Skala verknüpft sind, wären V4 (overall life satisfaction), V6 (democracy satisfaction) und V8 (amount of social change desired) und V9/V10 (country goals) in Frage gekommen. Das sind jene Trendvariablen, die kontinuierlich erhoben worden sind. Bei näherer Betrachtung der Fragestellungen, die diesen Variablen zu Grunde liegen, zeigt sich, dass nicht alle Variablen in gleichem Masse für die Bildung des Indikators geeignet sind.88

Der Variable V4 (overall life satisfaction) liegt eine Fragestellung zugrunde, die nicht auf die allgemeine Zufriedenheit mit "dem Leben" im Sinne des gesellschaftlichen oder gar politischen Lebens abzielt, sondern auf die persönliche Zufriedenheit der oder des Befragten mit dem Leben das er oder sie führt. Diese Eingrenzung der Frage auf den persönlichen Bereich macht die Variable V4 (overall life satisfaction) ungeeignet für die Bildung eines Indikators, der politische Einschätzungen repräsentieren soll, die eng an die Vorstellung von linken und rechten Positionen gebunden sind.

Demgegenüber eignen sich die Variablen V6 (democracy satisfaction) und V8 (amount of social change desired) sehr gut zur Bildung eines solchen Indikators: Mit "democracy satisfaction" wird die Zufriedenheit mit der Demokratie, also mit dem politischen System selbst, erfragt – eine Frage, die unmittelbar in Zusammenhang mit linken und rechten Positionen steht. Die Frageformulierung lautete wörtlich:

"On the whole, are you very satisfied, fairly satisfied, not very satisfied or not at all satisfied with the way democracy works (in your country)?"89

Der letzte Teil dieser Formulierung verweist auch schon auf das Problem, dass die Erfassung der Demokratiezufriedenheit mit sich bringt: Die Frage wurde in verschiedenen Ländern und somit vor dem Hintergrund verschiedener politischer Systeme gestellt. Ihre Bedeutung variiert daher von Land zu Land und ihre Beantwortung lässt sich über Landesgrenzen hinweg nicht problemlos interpretieren. Dieses Problem ist für unsere Arbeit aber nicht neu, sondern besteht in viel weiterem Umfang für den Basiskonsens selbst. Wir werden den Indikator deshalb später auch nach Ländern differenzieren, um solche Unterschiede zu kontrollieren.

Die zweite Variable, die sich zur Konstruktion des Basiskonsens-Indikators eignet, ist wie erwähnt die Variable V8 (amount of social change desired). Sie repräsentiert das Ausmass des sozialen Wandels, das der oder die Befragte wünscht. Die Antwortvorgaben entsprechen im Gegensatz zu den Vorhergehenden nicht einer linearen Skala (very, fairly, not very, not at all), sondern es handelt sich um multiple-choice Antworten. Die Frage lautete wörtlich:

"On this card are three basic kinds of attitudes vis-a-vis the society we live in. Please choose the one which best describes your own opinion :

1. The entire way our society is organized must be radically changed by revolutionary action

2. Our society must be gradually improved by reforms

3. Our present society must be valiantly defended against all subversive forces"

Obwohl multiple-choice Antworten grundsätzlich nominalskaliert sind und sich von ihnen eigentlich nicht viel mehr sagen lässt, als dass sie nicht gleich sind, enthält diese Antwortliste eine ordinale Dimension. Sie impliziert nämlich, dass die Antworten "Revolution – Reform – tapfere Verteidigung" ein Kontinuum, eine Skala bilden würden. Die Antwortliste korrespondiert mit historisch vermittelten politischen Positionen. Wer die Frage beantwortet, bezieht sich implizit auf die politischen Konzepte von "Revolutionären", "Reformern" und "Reaktionären/Konservativen".

Für unseren Indikator stellt dieser implizite Bezug auf solche historisch und politisch vermittelten Konzepte kein Problem dar, sondern einen grossen Vorteil. Denn genau solche politische Konzepte, die sich dem Links-Rechts-Schema entlang bewegen, stellen Elemente des politischen Selbstverständnisses europäischer Gesellschaften dar. Es handelt sich um Konzepte der Strukturierung des politischen Feldes, der gesellschaftlichen Architektur der politischen Auseinandersetzung, die wir mit dem Konzept des Basiskonsens umschrieben haben. Somit ist die Variable V8 (amount of social change desired) besonders gut dazu geeignet – in Verbindung mit der Links-Rechts-Skala – die Stärke des klassischen politischen Feldes als Bezugsrahmen der Artikulation politischer Konflikte zu repräsentieren.

Die letzten beiden Variablen, die zur Bildung des Basiskonsens-Indikators in Frage gekommen wären, sind V9 (country goals 1st) und V10 (country goals 2nd). Mit diesen beiden Fragen sollten Wertorientierungen der Befragten Personen entlang dem von Ronald Ingelhart entwickelten Materialismus-Postmaterialismus-Schema eingeteilt werden können.90 Die Antwortvorgaben beider Variablen sind identisch:

"There is a lot of talk these days about what this country's goals should be for the next ten or fifteen years. On this card are listed some of the goals that different people say should be given top priority (SHOW CARD J). Please say which one of them you, yourself, consider most important in the long run?

1. Maintaining order in the nation

2. Giving the people more say in important government decisions

3. Fighting rising prices

4. Protecting freedom of speech"

Diesen Antwortvorgaben enthalten keine lineare Dimension, sondern eine dichotome: Die Antworten 1 und 3 sollen auf materialistische und die Antworten 2 und 4 postmaterialistische Wertorientierung hinweisen. Die Frage wurde jeweils zweimal gestellt, um die beiden wichtigsten Anliegen der Befragten Person zu ermitteln. Aus den Antworten wird ersichtlich, ob eine Person eher materialistisch oder eher postmaterialistisch orientiert ist. Die Fragen beziehen sich somit auf eine Dimension von Wertorientierungen, die nicht eindeutig an das Konzept von linken und rechten politischen Positionen gebunden ist. Die Ordnung im Land mag zwar eher ein rechtes Anliegen sein, aber der Kampf gegen Preiserhöhungen oder die Gewährleistung der Redefreiheit können weder die Linke noch die Rechte für sich allein in Anspruch nehmen. Aus diesem Grund haben wir diese beiden Variablen nicht in die Konstruktion des Basiskonsens-Indikators eingeschlossen.

3.3.3 Empirisches Verfahren zur Messung des Basiskonsenses über die Zeit

Neben der Links-Rechts-Skala sind aus den regelmässig erhobenen Trendvariablen also nur zwei übrig geblieben, die in direktem Zusammenhang mit dem klassischen politischen Feld im Sinne von linken und rechten politischen Positionen stehen. Diese Variablen sollen nun zu einem Indikator verbunden werden, der die Intensität des Basiskonsens misst.

Dazu müssen wir abklären können, wie stark sich der Zusammenhang zwischen der Links-Rechts-Skala, dem Ausmass des gewünschten sozialen Wandels91 und der Demokratiezufriedenheit über die Zeit verändert.

Gleichgültig wie der Zusammenhang zwischen den Variablen konkret aussieht, es genügt, dass ein Zusammenhang plausibel erscheint.

Um den Zusammenhang statistisch zu messen, führten wir eine Varianzanalyse durch. Sie prüft, ob die Mittelwerte aller Items der abhängigen Variablen für sämtliche Kombinationen der Items der unabhängigen Variablen gleich sind. Sind sie nicht gleich, wird berechnet, inwieweit sich ein Unterschied zwischen den Gruppen schon durch einzelne oder erst durch das Zusammenwirken mehrerer unabhängiger Variablen ergibt.92

Konkret geht es darum, die Links-Rechts-Skala (abhängige Variable) durch "democracy satisfaction" und "amount of social change desired" (unabhängige Variablen) zu erklären. Dabei interessiert uns die Veränderung der Erklärungskraft der beiden letztgenannten Variablen über die Zeit. Bleibt sie konstant, so kann angenommen werden, dass die Links-Rechts-Skala kontinuierlich als Bezugsrahmen für politische Positionen akzeptiert wird und dass der Basiskonsens insofern intakt ist, als politische Positionen innerhalb eines anerkannten Rahmens definiert werden. Nimmt die Erklärungskraft aber ab, so kann dies als Auseinanderbrechen des klassischen politischen Feldes in seiner Funktion als Bezugsrahmen für politische Einstellungen verstanden werden, und folglich als ein Aufbrechen des Basiskonsenses.

Wir führen die Varianzanalyse für jedes einzelne Jahr durch und betrachten dann das Ausmass der erklärten Varianz. Der Verlauf der erklärten Varianz über die Zeit bildet unseren Basiskonsens-Indikator. Das Ergebnis ist in der Abbildung 8 graphisch dargestellt.

Abbildung 8

Die Kurve verläuft auf den ersten Blick einigermassen erratisch. Der Ausreisser im Jahr 1987 scheint die Zuverlässigkeit unseres Indikators ein wenig in Zweifel zu ziehen. Wenn wir aber den linearen Trend betrachten, wird ersichtlich, dass tatsächlich ein Trend hin zur Auflösung der Relevanz des klassischen politischen Feldes als Rahmen für die Einstellungen zu politischen Fragen besteht. Der Trend wäre ohne den Ausreisser sogar noch deutlicher ausgefallen. Die Erklärungskraft der unabhängigen Variablen auf die abhängige ist durchwegs gering und überschreitet 12% nicht. Der Indikator ist demzufolge recht schwach, wenngleich sämtliche direkten Einflüsse auf dem 1%-Niveau signifikant sind.

Die Analyse hat aber noch weitere Ergebnisse zu Tage gefördert: Je mehr links sich eine Person einstuft, desto unzufriedener ist sie mit der Demokratie und desto eher will sie die Gesellschaft verändern. Für jene, die sich rechts einstufen, gilt genau das Gegenteil.

Seit 1976 hat sich also die Kohärenz des klassischen politischen Feldes um mehr als die Hälfte verringert. Während sich die Links-Rechts-Plazierungen 1976 noch zu 11,1% mit der Stärke des gewünschten sozialen Wandels und der Demokratiezufriedenheit erklären liessen, waren es 1990 noch 5%.

3.4 Diskussion der Differenzierungen des Basiskonsens-Indikators

3.4.1 Vorbemerkung

Wir haben den Basiskonsens als eine Struktur von Einstellungen aufgefasst, die universal ist. Diese Struktur von Einstellungen haben wir operationalisiert als Relevanz des klassischen politischen Feldes als Bezugsrahmen für politische Einstellungen. Versteht man den Basiskonsenses als universale Erscheinung, so muss er trotz sozialer Ungleichheiten und Differenzierungen beim grössten Teil der Bevölkerung als homogenes Einstellungsmuster anzutreffen sein. Ob dies der Fall ist, können wir empirisch überprüfen und unseren Indikator damit validieren.

Dazu brauchen wir den Indikator lediglich nach verschiedenen Dimensionen der sozialen Ungleichheit zu differenzieren. Gruppen von Personen, die entlang solcher Ungleichheitsdimensionen gebildet werden, dürften sich dann bezüglich der Werte, die sie auf der Skala des Basiskonsens-Indikators erzielen, nicht wesentlich unterscheiden. Gemäss unseren Überlegungen zum Basiskonsens müssen die Gemeinsamkeiten, welche der Indikator misst, stärker ins Gewicht fallen als die Unterschiede, sonst macht unser Basiskonsens-Indikator keinen Sinn.

Wir haben solche Differenzierungen des ursprünglichen Indikators durchgerechnet und sind dabei auf interessante Ergebnisse gestossen. Die Validierung des Indikators erfolgte nach vier der gewichtigsten Ungleichheitsdimensionen, nämlich der Schulbildung, dem Geschlecht, dem Alter und dem Einkommen.

Die wichtigsten Ergebnisse dieser Analyse werden im Folgenden Kapitel diskutiert.

Das strengste Kriterium, das man heranziehen kann, um zu entscheiden, ob sich zwei Gruppen unterscheiden, wäre die Signifikanz. Sobald wir Gruppen bilden können, deren Unterschiede signifikant - also nicht zufällig - sind, kann man den Basiskonsens-Indikator kritisieren. Er unterliegt dann systematischen, nicht-zufälligen Verzerrungen, die auf den Einfluss einer sozialen Gruppe zurückgehen.

Die Konzeption des Basiskonsenses ist aber nicht dermassen eng gefasst, dass Signifikanz sinnvollerweise als Falsifikations-Kriterium des Indikators beizuziehen wäre. Neben dem Basiskonsens können in der Gesellschaft zwar verschiedene Meinungen existieren, doch es treten bestimmte grundlegende Meinungsstrukturen mit hoher Wahrscheinlichkeit über die Gräben sozialer Ungleichheiten und über die Variationen innerhalb sozialer Gruppen hinweg auf.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass der Basiskonsens keine absolute, sondern eine relative Grösse ist. Unsere empirische Validierung und Differenzierung des Basiskonsens-Indikators muss deshalb abklären, ob dieser tatsächlich den Homogenitätsgrad von Meinungen misst oder aber bloss Effekte von Alter, Bildung, Geschlecht oder Einkommen. Daher untersuchen wir, ob die Differenzierungen nach Alter, Bildung, Geschlecht und Einkommen den Basiskonsens-Indikator dermassen verzerren, dass seine Bewegungen und Veränderungen nicht gruppenunabhängig sind. Wenn wir trotz der Differenzierungen dieselben Bewegungen beobachten wie ohne, dann verfügen wir über einen zuverlässigen Indikator. Mit anderen Worten: Wenn der Indikator zuverlässig sein soll, müssten die Gemeinsamkeiten der differenzierten Indikatoren und des ursprünglichen, nicht-differenzierten Indikators ihre Unterschiede bei weitem übertreffen.

Wenn wir den Indikator auf Inkonsistenzen bezüglich Bildung, Geschlecht, Alter und Einkommen prüfen, so müssen wir berücksichtigen, dass diese Variablen nicht voneinander unabhängig sind. Sie sind systematisch miteinander verknüpft und beeinflussen einander gegenseitig, was auf die soziale Schichtung zurückzuführen ist. Um die Stärke ihrer Verknüpfung abzuschätzen, haben wir die Spearman-Korrelationskoeffizienten93 der vier Variablen in Tabelle III auf Seite * dargestellt. Daraus wird ersichtlich, dass ein enger Zusammenhang zwischen Alter und Bildung, zwischen Alter und Einkommen sowie zwischen Bildung und Einkommen besteht.

Alte Menschen verdienen tendenziell weniger und verliessen die Schule früher als Junge. Eine lange Ausbildungsdauer erhöht die Wahrscheinlichkeit eines höheren Einkommens. Es geht an dieser Stelle nicht darum, diese Tatbestände zu erklären, sondern sich diese Zusammenhänge bewusst zu machen, weil sie die Ergebnisse der folgenden Analyse beeinflussen werden und wir diese indirekten Einflüsse kontrollieren wollen.

Da leider die Varianzanalyse solche indirekten Einflüsse nicht kontrollieren kann, können wir sie lediglich durch theoretische Überlegungen und durch den Einbezug anderer empirischer Grössen und plausibler Argumente in den Griff bekommen.

Tabelle III

Spearman-Korrelationskoeffizienten der Variablen
Bildung, Geschlecht, Alter und Einkommen.94

Bildung

Geschlecht

Alter

Geschlecht

-0.067

Alter

-0.454

0.027

Einkommen

0.298

-0.081

-0.229

3.4.2 Schulbildung

Schulbildung, aber auch verschiedene Formen der informellen Bildung haben einen markanten Einfluss auf die Einstellungen von Personen. Deshalb ist zu erwarten, dass sich in Meinungsumfragen Bildungsunterschiede widerspiegeln. Die Bildungsunterschiede wirken einerseits direkt, da Bildung Wissensunterschiede produziert, und andererseits indirekt, indem die Bildung soziale Positionen zuweist, welche die Verinnerlichung bestimmter Meinungsstrukturen bewirken. So wird die oben postulierte Homogenität des Basiskonsens-Indikators wahrscheinlich nicht nachzuweisen sein, wenn wir auf Bildungseffekte testen.

Bei diesem Test wurde "Bildung" aus der Variable "Alter des Schulabschlusses" konstruiert und gibt daher lediglich ein rudimentäres Bild der tatsächlichen Bildungsunterschiede wieder. Sinnvollerweise sollte unter Schulbildung nicht die Länge der Schulbildung verstanden werden, sondern die Art der erworbenen Bildungszertifikate, im Idealfall sogar die Art der Lehranstalt. Erst wenn Bildung auf diesem hohen Komplexitätsniveau kodiert wird, können die Unterschiede, welche die Schule generiert, und ihre Einflüsse auf Einstellungen und Meinungen präzise untersucht werden. Wir können an dieser Stelle also nur die groben Einflüsse der Bildung erkennen, zumal wir aus methodischen Gründen und der Übersichtlichkeit halber nur fünf verschiedene Bildungsniveaus gebildet haben. In der Abbildung 9 lassen sich die Unterschiede gut erkennen.

Abbildung 9

Auffällig ist, dass der Basiskonsens-Indikator stark nach dem Bildungsniveau variiert. Für Personen, die sich noch in Ausbildung befinden, und solche, die nach dem 21. Lebensjahr die Bildungsinstitutionen verlassen haben, ergeben sich erstaunlich hohe Werte. Bei diesen beiden Kategorien ist auch bemerkenswert, dass sich der Kurvenverlauf markant vom allgemeinen Muster unterscheidet, die Kurve bis Mitte der 1980er Jahre teilweise sogar die entgegengesetzte Steigung des Basiskonsens-Indikator aufweist. Danach gleichen sich die Kurven insofern an, als sie gleichzeitig sinken oder ansteigen, wobei die beiden Bildungskategorien die Bewegungen viel intensiver durchlaufen.

Personen mit kürzerer Bildungsdauer dagegen unterscheiden sich nur sehr geringfügig vom allgemeinen Muster. Die Kurven steigen und sinken parallel zum Basiskonsens-Indikator, weisen aber allgemein tiefere Werte auf. Um die Bewegung der einzelnen Bildungskategorien besser im Verhältnis zu jener des Basiskonsens-Indikators diskutieren zu können, haben wir Abbildung 10 eingefügt. Die Werte im Diagramm entsprechen der Differenz zwischen den Werten des Basiskonsens-Indikators und den Werten der einzelnen Bildungskategorien.

Abbildung 10

Die Unterschiede der Erklärungskraft des Indikators sind markant. Die Differenzierung nach Bildung bringt einen Erklärungsgewinn, der die Aussagekraft des Basiskonsens-Indikators selbst übersteigt.

In dieser Darstellungsweise erkennen wir ganz deutlich, dass die beiden tiefen Bildungsstufen (Alter bei Schulabgang bis 14 Jahre oder 15-17 Jahre) zwar zu tieferen Werten führen, die Abweichung vom Basiskonsens-Indikator aber nur geringfügig ist.

Die höheren Werte von Personen, die sich bis Mitte der 1980er Jahre noch in Ausbildung befinden und die höheren Werte von Personen mit langer Schulbildung können recht gut erklärt werden, denn es handelt sich um politisiertere Gruppen. Die hohen Werte verweisen auf die Wirkungsmacht des klassischen politischen Feldes als Bezugsrahmen für politische Einstellungen der Befragten. Als Echo der 68er Bewegung stellen wir bei Personen mit langer Bildungsdauer, die also beispielsweise eine Universität besucht haben, einen Politisierungseffekt fest, welcher die hohen Werte erklärt. Dasselbe kann auch für Personen vermutet werden, die sich noch in Ausbildung befinden (in dieser Gruppe sind ebenfalls Personen mit langer Bildungsdauer stark vertreten).

3.4.3 Geschlecht

Wir wollten auch abklären, ob unser Indikator geschlechtsneutral ist oder nicht. Es ist naheliegend, Geschlechtsunterschiede zu vermuten. Der Einfluss des Geschlechts auf den Basiskonsens-Indikator ist wesentlich geringer als jener der Bildung (siehe Abbildung 11, S.*). Die Variationen aufgrund des Geschlechts bewegen sich zwischen 1.5% und 10% der Erklärungskraft des allgemeinen Indikators. Verglichen mit den Variationen, die das Kriterium Bildung zu Tage gefördert hat (bis zu 150% der Erklärungskraft des allgemeinen Indikators), sind sie also eher klein. Sie sind aber keineswegs zufällig zustande gekommen und sollten deshalb auch nicht unberücksichtigt oder undiskutiert bleiben.

- Die Kurve, welche die männlichen Befragten repräsentiert, verläuft eigentlich sehr ähnlich wie der allgemeine Indikator. Bei Aufwärtsbewegungen steigt sie aber schneller und höher an als der allgemeine Indikator.

- Bei der Kurve, welche die weiblichen Befragten repräsentiert, verhält es sich genau umgekehrt: Sie sinkt jeweils bei Abwärtsbewegungen schneller und tiefer ab als der allgemeine Indikator.

Abbildung 11

Wenn wir die Abweichungen vom allgemeinen Basiskonsens-Indikator betrachten, zeigt sich, dass Männer meistens höhere und Frauen tiefere Werte erzielen. Die Frauen teilen demzufolge den Basiskonsens weniger, die Männer teilen ihn verstärkt.

Dass die Abweichungen von Männern und Frauen fast symmetrisch verlaufen, ist eine mathematische Eigenschaft unseres Vorgehens.

Abbildung 12

Die geschlechtsspezifischen Variationen der Antworten verstärken sich im Zeitverlauf. Die Werte der Männer liegen je länger, desto höher über dem Indikator und jene der Frauen je länger, desto tiefer darunter. Das bedeutet, dass sich eine Schere zwischen den Geschlechtern öffnet und die Männer die allgemeine Abwärtsbewegung des Indikators weniger stark mitmachen. Für Frauen gewinnt demnach das klassische politische Feld als Bezugsrahmen für politische Einstellungen noch stärker an Bedeutung als für Männer.

Alles in allem müssen wir aber unbedingt festhalten, dass die Variationen sehr gering sind.

3.4.4 Alter

In einem dritten Schritt testeten wir den Basiskonsens-Indikator auf Alterseffekte. Der Indikator sollte altersunabhängig sein und jedes Alter gleich gut repräsentieren respektive von allen Alterskategorien im gleichen Ausmass geteilt werden.

Bei der Unterscheidung nach dem Alter stellte sich uns die Frage, ob wir sinnvollerweise Altersgruppen (Gruppen mit demselben aktuellen Alter) oder Alterskohorten (Gruppen von Geburtenjahrgängen) betrachten sollten. Alterskohorten würden sich dann eignen, wenn wir Effekte der Sozialisation und ähnlicher Einwirkungen historischer Bedingungen auf die Einstellungen der Befragten kontrollieren möchten. Statistisch werfen sie das Problem auf, dass die jüngsten Jahrgänge erst spät in die Analyse einfliessen und umgekehrt die älteren Geburtenjahrgänge abnehmen. Dadurch sind die Kategorien elastisch und messen nicht alle Jahre dasselbe.

Die Unterscheidung nach Altersgruppen spiegelt die Effekte des aktuellen Altersgefüges und seiner Spannungen sowie Effekte der Lebensphase eines Individuums. Altersgruppen charakterisieren die Einstellungen, die durch das Jung- oder Alt-Sein bedingt sind, und reflektieren dadurch auch Veränderungen der sozialen Konstrukte von Jugend oder Alter.

Wir haben uns entschieden, Altersgruppen zu unterscheiden, weil sie Alterseffekte in direkterer Form reflektieren als Alterskohorten. Uns interessieren die Effekte, welche das Alter selbst bewirkt, und nicht die Veränderungen, die sich aus dem Altern einer bestimmten Generation ergeben.

Abbildung 13

Die Kategorie der 15- bis 29-Jährigen macht die extremste Bewegung. Nachdem sie bis 1979 Spitzenwerte aufweist, sinkt sie zu Beginn der 1980er Jahre stark ab, stagniert auf relativ tiefem Niveau und sinkt bis 1990 sogar auf unterdurchschnittlich tiefe Werte. Die Gruppe der Ältesten (ab 65 Jahren) pendelt - im Gegensatz zum allgemeinen Indikator - zwischen 5% und 8%, mit Ausnahme der Jahre 1984 - 1987, wo recht hohe Werte erzielt wurden. Diese Gruppe weist demnach sehr konstante Werte auf und widerspricht der allgemeinen Tendenz zur Auflösung des Basiskonsenses.

Abbildung 14

Es existiert also ein Gegensatz zwischen den Altersgruppen. Seine Variationsbreite geht maximal bis zu 50% der Erklärungskraft des Basiskonsens-Indikators und ist damit fünfmal geringer als diejenige, die auf Bildung zurückgeführt werden kann, aber mehr als dreimal so stark wie die Geschlechtsunterschiede.

Das Diagramm der Unterschiede zwischen dem Basiskonsens-Indikator und den Werten der Altersgruppen zeigt die Qualität der Alterseffekte: Bis 1982 teilen die beiden jungen Gruppen den Basiskonsens stärker, die beiden alten Gruppen dagegen schwächer. Dann wendet sich das Blatt, und die Jungen weisen unterdurchschnittlich tiefe Werte auf, während die Alten eher überdurchschnittlich hohe Werte erzielen.

3.4.5 Einkommen

Schliesslich haben wir untersucht, ob sich das Einkommen der befragten Personen auf den Basiskonsens-Indikator auswirkt. Das Einkommen wurde in den einzelnen Eurobarometer-Studien jeweils in jedem Land in der nationalen Währung erhoben. Im kumulierten Datensatz wurde die Variable der Einfachheit halber auf Einkommensquartile recodiert. Der Vorteil liegt darin, dass die nationalen Samples daher aggregiert werden konnten und komplizierte Umrechnungen nationaler Währungen wegfallen. Für diese Bequemlichkeit müssen wir aber in Kauf nehmen, dass die nationale Schichtungsstruktur, also das Ausmasses der ökonomischen Ungleichheit in den einzelnen Ländern, nicht berücksichtigt werden kann. Zudem wird bei Einteilung der Bevölkerung in Einkommensquartile die ökonomische Ungleichheit massiv unterschätzt. Schliesslich wird die Interpretation der Kategorien schwierig. Sie entsprechen sicherlich nicht dem klassischen Schema "Unterschicht" - "untere Mittelschicht" - "obere Mittelschicht" - "Oberschicht", das sie suggerieren. Die Mittelschicht erstreckt sich wahrscheinlich über mehr als zwei Kategorien.

Die Kurven verlaufen sehr ähnlich wie der allgemeine Indikator, und die Abweichungen lassen sich kaum sinnvoll interpretieren (siehe Abbildung 15).

Abbildung 15

Auch wenn wir nur die Differenzen des Basiskonsens-Indikators und der Gruppenwerte betrachten, erhalten wir keine interessanten Hinweise auf systematische oder inhaltlich erklärbare Abweichungen (siehe Abbildung 16).

Abbildung 16

Zwar weist das höchste Einkommensquartil fast immer überdurchschnittlich hohe Werte auf. Die tiefste Einkommenskategorie liefert aber nicht etwa tiefere Werte, sondern pendelt im Rahmen zufälliger Variationen um den allgemeinen Indikator. Die maximale Variation beträgt aber nur knapp die Hälfte der Erklärungskraft des allgemeinen Indikators und ist etwa so stark wie die Geschlechtsunterschiede. Sie fallen kaum ins Gewicht und können nicht sinnvoll interpretiert werden.

3.5 Ergebnisse und Konsequenzen

3.5.1 Konsequenzen für die weitere Untersuchung

Nicht alle Personen teilen den Basiskonsens gleichermassen. Alterseffekte, Geschlechts- und Einkommensunterschiede sind zwar vorhanden, fallen aber kaum ins Gewicht. Die Variationen, die darauf zurückgehen, sind allesamt bedeutend geringer als die Gemeinsamkeiten, die trotz ihnen bestehen.

Hingegen sind Bildungsunterschiede in grossem Ausmass vorhanden. Ihre Erklärungskraft ist grösser als jene des Indikators selbst. Personen, die sich in Ausbildung befinden, und solche, die über das Alter von 21 Jahren hinaus in Ausbildung waren, scheinen an anderen Diskursen teilzunehmen respektive durch andere Diskurse beeinflusst zu sein als die anderen Personen.

Diese Unterschiede resultieren einerseits aus den Gruppen (Habitus, Lebenswelt, gruppenspezifische Interessen, soziale Schliessung etc.) und andererseits aus der Wirkungskraft und der Dynamik der verschiedenen Diskurse (z.B. Elitendiskurs, Komplexitätsniveau und Schliessung der Diskurse)

Es gibt nicht einen einzigen Diskurs zur Sicherheit, sondern mehrere. Verschiedenartige soziale Gruppen partizipieren an unterschiedlichen Diskursen.

3.5.2 Konsequenzen bezüglich des Indikators (Validierung)

Die Gemeinsamkeiten der Gruppen überwiegen die Unterschiede. Dies ist die zentrale Schlussfolgerung der Validierung. Wir haben gezeigt, dass der Basiskonsens-Indikator mehr Gemeinsamkeiten der in ihm enthaltenen Gruppen repräsentiert, als dass er Unterschiede einebnen würde. Wir können den Indikator demzufolge als über die Grenzen sozialer Schichtung hinweg wirksames Abbild der Verbreitung von Diskursen betrachten.

Hätte sich in diesem Kapitel gezeigt, dass die Unterschiede, welche auf verschiedene Dimensionen sozialer Schichtung zurückgehen, die Gemeinsamkeiten, die der Indikator repräsentiert, übertreffen, so hätten wir den Indikator als unzweckmässiges Konstrukt zurückweisen müssen.

Der Indikator kann ganz im Gegenteil als stabil gegenüber sozialer Schichtung bezeichnet werden und wird uns bei der weiteren Untersuchung dienlich sein.

3.6 Unterschiede nach Ländern

An dieser Stelle ist es sinnvoll, abzuklären, ob die untersuchten Erscheinungen je nach Land unterschiedlich seien. Dadurch wird die Zuverlässigkeit der Ergebnisse auf der Ebene der EU überprüft: Das Muster des Basiskonsenses sollte tatsächlich in jedem einzelnen Land vorzufinden sein. Wenn dies nicht der Fall ist, müssen wir die Verankerung des Basiskonsenses überdenken.

In unserem Sample sind noch Belgien, Dänemark, Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg und die Niederlande enthalten. Wir bildeten nun für jedes dieser Länder denselben Indikator wie zuvor für die gesamte EU.

Die Erklärung der Links-Rechts-Plazierungen durch das gewünschte Ausmass an sozialem Wandel und die Demokratiezufriedenheit war im Gegensatz zum gesamteuropäischen Indikator nicht in allen Ländern und in allen Jahren signifikant.

Die Signifikanz in einer Varianzanalyse hat einerseits mit der Anzahl der beobachteten Fälle pro Ausprägung der Variablen zu tun. Wenn diese Fallzahl zu tief ist, können keine zuverlässigen Werte berechnet werden, und die Ergebnisse sind deshalb nicht signifikant.

Dies war bei Dänemark und Irland der Fall: Die Werte von Dänemark sind in acht von 16 Jahren für V6 (Demokratiezufriedenheit) und in zwei zusätzlichen Jahren für beide Variablen nicht signifikant. Der Grund dafür liegt bei der Gewichtungsvariablen. Das Sample von Dänemark weist tatsächlich N=39'652 Befragte auf, wird aber, um auf gesamteuropäischem Niveau repräsentative Ergebnisse zu liefern, auf N=5'790 Befragte gewichtet. Somit werden die Zelleninhalte in den besagten Jahren zu klein, als dass sie zuverlässige Berechnungen erlaubten. Wir haben uns deshalb entschieden, im Falle von Dänemark die Analyse ohne Gewichtung durchzuführen. So erhalten wir einen Indikator, welcher zwar nicht repräsentativ ist, aber trotzdem zuverlässiger erscheint als der gewichtete: Nun sind lediglich die Ergebnisse für die Jahre 1976-79 und jenes von 1982 nicht signifikant.

In Irland stellte sich dasselbe Problem erneut. Hier wurde die ursprünglichen Stichprobe von N=39'455 durch die Gewichtungsvariable auf ein N=3'431 umgerechnet. Der Indikator konnte deswegen für kein einziges Jahr zuverlässige Werte berechnen. Also berechneten wir – analog zu Dänemark – den Indikator, ohne die Gewichtung zu berücksichtigen, und erhielten zuverlässigere, aber nicht repräsentative Ergebnisse.95

Bei den Länderindikatoren von Luxemburg und Belgien waren aber andere Umstände dafür verantwortlich, dass kaum signifikante Werte berechnet werden konnten: Ob mit oder ohne Gewichtung, für diese beiden Länder liess sich kein signifikanter Indikator bilden. Bei allen Varianten, die Rechnung durchzuführen, war mehr als die Hälfte der Resultate nicht signifikant. Die Ursache liegt nicht in zu kleinen Fallzahlen, sondern darin, dass sich die Gruppenmittelwerte der Items der erklärenden Variablen nur ganz schwach voneinander unterscheiden.

Für die Niederlanden war in zwei und für Grossbritannien in drei Jahren die Variable V6 (Demokratiezufriedenheit) nicht signifikant.96 Dies zieht aber die Zuverlässigkeit dieser beiden Länderindikatoren nicht grundsätzlich in Zweifel, weil die Haupteffekte und der Einfluss der anderen erklärenden Variable – V8 (gewünschtes Ausmass an sozialem Wandel) – immer noch signifikant sind. Typischerweise sind jene Jahre nicht signifikant, die besonders tiefe Werte aufweisen, was die Überlegungen, die wir für Luxemburg und Belgien angestellt haben, bestätigt.

Wir verfügen nach diesem Arbeitsschritt über durchwegs signifikante Indikatoren für Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien und die Niederlande. Weiter haben wir Indikatoren für Irland und Dänemark, die zwar nicht repräsentativ, aber trotzdem recht zuverlässig sind. Die Stichproben dieser beiden Länder betragen immerhin einige Zehntausend Befragte und können daher als mit genügend grosser Wahrscheinlichkeit zufallsverteilt betrachtet werden. Im Falle von Irland ist zudem anzumerken, dass die europäische Gewichtungsvariable die Stichprobe auch auf nationalem Niveau nicht repräsentativ gemacht hätte und demzufolge durch die Vernachlässigung der Gewichtung kein Informationsverlust entstanden ist.

Wenn wir den Kurvenverlauf der einzelnen Länder betrachten, müssen wir feststellen, dass die Indikatoren in den einzelnen Ländern keineswegs so einheitlich verlaufen, wie wir es aufgrund der Theorie vermutet haben. Die Länder unterscheiden sich recht stark voneinander. Der allgemeine Trend, also die Auflösung des Basiskonsenses, wird zwar in Dänemark, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden bestätigt, in Grossbritannien, Italien und Irland dagegen lässt er sich nicht vorfinden. In Luxemburg und Belgien konnte gar kein Indikator berechnet werden.

Die Interpretation der Kurven in den einzelnen Ländern muss mit grösster Vorsicht unternommen werden! Es wäre falsch, jede Steigungsänderung der Indikatoren als ein Zersetzen oder Aktualisieren des Basiskonsenses aufzufassen. Erstens wissen wir, dass der Basiskonsens eine sehr träge Grösse ist. Zweitens haben wir bei den Überlegungen zur Konstruktion des Indikators gesehen, dass wir nicht in der Lage sind, den Basiskonsens "abzubilden", sondern lediglich über einen Indikator verfügen, der als Hinweis auf den Basiskonsens interpretiert werden kann. Wir verstehen diese Einschränkung so, dass sich anhand eines solch groben Indikators zuverlässige Aussagen nur darüber machen lassen,

Wir können also nur Aussagen machen, welche das Verhältnis zwischen den Indikatoren betreffen, aber keineswegs solche, die den Basiskonsens als absolute Grösse voraussetzen würden. Aufgrund solcher relativer Aussagen können wir aber doch Verlaufsmuster unterscheiden und auf die theoretischen Erwartungen rückbeziehen.

Ironischerweise widersprechen die Länder, in denen sich der Indikator infolge fehlender Signifikanz gar nicht bilden liess, nicht völlig den theoretischen Erwartungen. Wir erwarten ja, dass sich mit der Auflösung des politökonomischen Regimes auch der Basiskonsens zersetzt. Diese Phase datieren wir auf den Beginn der 1980er Jahre. Wenn wir bei den Fällen Luxemburg und Belgien sehen, dass der Basiskonsens schon 1976 zersetzt ist, so müssen wir daraus den Schluss ziehen, dass sich dort der Basiskonsens schon vor dem Beginn der Messungen zersetzt hatte.

Zu demselben Schluss kommen wir für Irland: Dort verläuft die Kurve erratisch, und die erklärte Varianz ist mit 1,6% bis 6,5% nur halb so gross wie auf gesamteuropäischem Niveau. Das klassische politische Feld als Bezugssystem für Meinungsbildung scheint sich in Irland bereits vor 1976 aufgelöst zu haben; Reste des Basiskonsenses sind im gesamten Zeitraum empirisch nicht nachzuweisen.

Die Erklärungskraft in Italien ist immer markant tiefer als im europäischen Durchschnitt. Der Indikator bewegt sich auf tiefem Niveau und sinkt im Beobachtungszeitraum tendenziell ab.

Der Indikator in Grossbritannien ist demgegenüber teilweise doppelt so stark wie der gesamteuropäische Indikator. Die Kurve verläuft jedoch ganz anders als erwartet. In Grossbritannien nimmt die erklärte Varianz nämlich tendenziell zu. Neben starken Auf- und Abwärtsbewegungen in den letzten beobachteten Jahren, die sich nicht sinnvoll interpretieren lassen, bleibt festzuhalten, dass Grossbritannien dem allgemeinen europäischen Muster ganz grundsätzlich widerspricht. Anstatt einer Zersetzung des Basiskonsenses respektive der Kohärenz des klassischen politischen Feldes finden wir hier seine Verstärkung.

Dänemark, Deutschland und die Niederlande weisen ein drittes Muster auf und lassen sich zu einer Gruppe zusammenfassen. In diesen vier Ländern beobachten wir, dass die Kurve zunächst eben verläuft oder leicht ansteigt und anfangs der 1980er Jahre den Höhepunkt durchläuft. Danach sinkt sie bis zum letzten verfügbaren Jahr deutlich ab.

Das Ansteigen der Kurve von 1976 bis zu den 1980er Jahren fällt in die Zeitspanne zwischen der 1974er Krise und dem zweiten wirtschaftlichen Einbruch zu Beginn der 1980er Jahre. Dieses zeitweilige Ansteigen der Kurve war bereits beim gesamteuropäischen Indikator zu sehen, lässt sich aber am deutlichsten in Dänemark beobachten:

Am Beispiel Dänemarks lässt sich gut zeigen, wie in den Jahren zwischen den beiden Krisen der Basiskonsens abnimmt, sich zu Beginn der 1980er Jahre nochmals erhöht und dann permanent sinkt, bis zum letzten verfügbaren Jahr. Dasselbe gilt für Deutschland und die Niederlande.

Die Niederlande zeichnen sich dadurch aus, dass die Bewegungen der Kurve bis 1988 weniger deutlich sind als in den anderen drei Fällen dieser Gruppe. Dafür fällt die Kurve in den letzten verfügbaren Jahren sehr stark ab. In der Karriere des Gesellschaftsmodells fällt der Zeitraum des vorübergehenden Ansteigens des Basiskonsens-Indikators in diesen vier Ländern mit der wirtschaftlichen Zwischenerholung zusammen.

Es ist aber aufgrund unserer theoretischen Überlegungen nicht einsehbar, dass die wirtschaftliche Zwischenerholung auf den Basiskonsens durchschlägt. Wie wir zu Beginn dieses Kapitels gesehen haben, gründet die Zwischenerholung zwar auf einer vorübergehenden Legitimitätszufuhr an das Gesellschaftsmodell. Die Quelle der Legitimität sind aber eben nicht wie beim Basiskonsens Stabilität und Gerechtigkeit, oder ein erneuerter Gesellschaftsvertrag. In der Phase der Zwischenerholung sind es die ersten Elemente des technologischen Stils, die eine Faszination des Neuen ausstrahlen und dadurch zeitweilig Legitimität erzeugen.

Schliesslich existiert ein viertes Muster: Das stetige Sinken des Indikators und folglich die konsequente Auflösung des Basiskonsenses seit den 1970er Jahren.

In keinem anderen Land vermochten die Demokratiezufriedenheit und das gewünschte Ausmass an sozialem Wandel die Links-Rechts-Plazierungen so gut vorauszusagen wie in Frankreich. Von anfänglich 37,7% erklärter Varianz fällt die Kurve auf noch gerade 3,3% im Jahr 1990. Dieses Muster entspricht erstaunlich genau dem Verlauf, der sich aus der Theorie begründen lässt.

3.7 Fazit

Die empirisch gewonnenen Ergebnisse sind zwiespältig. Wir können zunächst bestätigen, dass sich die Entwicklung des Basiskonsenses im Zeitverlauf im undifferenzierten Indikator für die gesamte EU so dargestellt hat, wie wir es theoretisch hergeleitet haben. Die grundlegende Tendenz zur Auflösung des Basiskonsenses konnten wir im Indikator für die gesamte EU belegen.

Dieses Ergebnis wird aber durch die nach Ländern differenzierte Analyse relativiert. Der Indikator weist in den einzelnen Ländern recht unterschiedliche Entwicklungen auf:

In Luxemburg und Belgien konnte der Indikator nicht berechnet werden, weil die Ergebnisse nicht signifikant waren. Wir müssen davon ausgehen, dass der Basiskonsens in diesen beiden Ländern schon vor 1976 zersetzt war. In Irland und Italien ist ein Abwärtstrend erkennbar. In beiden Ländern ist die Stärke des Indikators wesentlich tiefer als im europäischen Durchschnitt, was darauf hinweist, dass wir es hier mit den letzten Anzeichen der Zersetzung des Basiskonsenses zu tun haben.

Der allgemeine Trend zur Auflösung des Basiskonsenses wird auch in Dänemark, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden bestätigt.

In drei dieser vier Fälle, nämlich in Dänemark, Deutschland und den Niederlanden, stehen wir aber vor dem Phänomen, dass der Indikator zu Beginn der 1980er Jahre zeitweilig ansteigt. Obwohl aus methodischen Gründen nur grobe Bewegungen der Indikatoren interpretiert werden können, ist dieses "Zwischenhoch an Basiskonsens" nicht zu übersehen. In Grossbritannien ist der Indikator sogar angestiegen, was wir ebenfalls nicht erwarten konnten.

Das Beispiel Frankreichs hat unsere Erwartungen hingegen vollends bestätigt. Dort zeigt sich die konsequente Auflösung des Basiskonsenses, wie wir sie in Abbildung 7 auf * dargestellt haben.

Die theoretische Vorstellung des Basiskonsenses wird durch die empirische Analyse grundsätzlich bestätigt, und auch seine empirische Umsetzung ist insgesamt als sinnvoll anzusehen. Wird der Basiskonsens-Indikator aber für einzelne Länder berechnet, so bringt er in fünf von total neun untersuchten Ländern ein Mehr an Erklärung. Die Erklärungskraft hat sich im Extremfall Frankreich sogar mehr als verdreifacht. Das bedeutet, dass im undifferenzierten Indikator eine ganze Menge Informationen verborgen geblieben sind. Das heisst zwar noch nicht, dass der Indikator auf der Ebene der EU gar keinen Sinn machen würde; wir müssen aber an dieser Stelle ein Fragezeichen hinter die Vorstellung setzen, dass ein Basiskonsens über Landesgrenzen hinweg vorausgesetzt werden kann. Wir werden deshalb im folgenden Kapitel abklären, inwiefern diese Vorstellung zu differenzieren ist.

 

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