2. Erweiterung der Theorie um den Diskursbegriff

2.1 Einleitende Bemerkungen

"In unsicheren Zeiten hat der ‘Ruf nach Sicherheit und Ordnung’ Konjunktur. Ohne Umschweife werden dann die Sicherheitsexperten ins Spiel gebracht: von ‘durchgreifenden Massnahmen’ ist schnell die Rede; schärfere Gesetze und eine Polizei, die der Unsicherheiten Herr werden soll, werden gefordert. Diese schlichten Formeln aus dem Standartrepertoire populistischer Politik dienen den Interessen der Sicherheitsbürokratien. Sie zielen auf einen die Gesellschaft überziehenden Schleier staatlicher Sicherheitsvorkehrungen, der Sicherheit verspricht, aber neue Unsicherheiten produziert."27

Wie ein Schleier überziehen nicht nur Sicherheitsvorkehrungen gegen die "erfasste Kriminalität" und die mit ihnen einhergehende "Kriminalitätsfurcht", sondern, bildlich gesprochen, auch Diskurse unsere Gesellschaft.

Warum, wo und in welcher Form Diskurstheorie sinnvollerweise mit Bornschiers Theorie des gesellschaftlichen Wandels verbunden werden muss, um zu klären, weshalb nun die Wahrnehmung der Kriminalität und deren reale Entwicklung auseinanderklafft, soll Gegenstand des vorliegenden Kapitels sein.

Unser Fokus richtet sich dabei in erster Linie auf den Krisenkontext und die damit verbundene gesellschaftliche Verunsicherung – genau auf denjenigen Punkt also, wo wir die Diskrepanz zwischen Verunsicherungsfaktoren und Wahrnehmung der Verunsicherung konstatieren mussten. Wo nötig werden wir dabei Teilbereiche des vorgehenden Kapitels aufgreifen und die Verbindung zur Diskurstheorie ausführlich herleiten.

Zunächst stellt sich die Frage: Weshalb Diskurstheorie zur Erweiterung von Bornschiers Theorie des gesellschaftlichen Wandels?

Wir wählten Bornschiers Theorie, weil dieser Ansatz erlaubt, den gesellschaftlichen Wandel über Jahrzehnte hinweg zu beobachten und Hypothesen über die Entwicklung einzelner Bestandteile des Gesellschaftsmodells zu formulieren und diese empirisch zu überprüfen. Die Entwicklung der Verunsicherungsfaktoren und deren Wahrnehmung lässt sich aber, dies haben wir bereits im vorgehenden Kapitel erkennen müssen, nicht anhand der von Bornschier validierten Kurve28 erklären.

Ein anderer Faktor nimmt hier auf die Entwicklung des Gesellschaftsmodells Einfluss. Implizit sind in der Theorie gesellschaftlichen Wandels verschiedene Anknüpfungspunkte zu diesem bislang ungenannten Faktor enthalten. Diese Schritt für Schritt aufzuzeigen ist Ziel des ersten Teiles dieses Kapitels. Wir nähern uns also dem "bislang ungenannten Faktor", der Diskurstheorie, aus der Theorie Bornschiers heraus. Dazu werden einige kleinere Exkurse vonnöten sein, die letzlich das Gesamtbild verständlich machen sollen.

Diskurstheorie drängt sich deshalb auf, weil unsere Fragestellung, die sich mit dem Wandel von Wahrnehmung befasst, eng mit Kommunikation und Information zusammenhängt. Wahrnehmung verändert sich nicht unmotiviert; gerade in unserer medial geprägten Gesellschaft – der Begriff "Informationsgesellschaft"29 beschreibt diesen Umstand, ohne selbst einer weiteren Präzisierung zu bedürfen – tragen Informationen, welche durch gesellschaftliche Kommunikation in Diskursen verbreitet werden, zu dieser Veränderung Entscheidendes bei. Wir können Diskurse auch vereinfachend als vergesellschaftete Kommunikation bezeichnen.

Im darauf folgenden Teil befassen wir uns mit der Diskurstheorie selber. Nach einigen einführenden Bemerkungen werden wir die Funktion der Diskurse im Krisenkontext festlegen, und zwar anhand einzelner Bestandteile des Gesellschaftsmodells. Dabei möchten wir zeigen, dass das Konzept des Basiskonsenses gerade im Zeitpunkt der Auflösung eines Gesellschaftsmodells nicht nur eine funktionale und eine strukturelle Ebene besitzt, also nicht nur das "Was" und "Wie" des Gesellschaftsvertrages bezeichnet. Zusätzlich besitzt der Basiskonsens eine kommunikative, eine diskursive Dimension, deren Kenntnis uns den Prozess der Zersetzung des alten und die Konstruktion eines neuen Basiskonsenses und der dazugehörigen institutionellen Ausgestaltung im Rahmen des Konfliktverlaufs der Gesellschaftsmodelle verständlicher macht.

Schliesslich soll uns dieses Kapitel dazu verhelfen, festzulegen, was zum Zeitpunkt der grösstmöglichen Krise im Gesellschaftsmodell vor sich geht und wie diese Entwicklungen auf den Prozess der Bildung eines neuen Gesellschaftsmodells einwirken. Bornschier bezeichnet Gesellschaftsmodelle als erneuerbare Gesellschaftsverträge30. Damit werden sie zum Kulturprodukt und können, dem besseren Verständnis wegen, analytisch in vier Ebenen aufgeteilt werden. An dieser Stelle sei nur kurz auf diese vier Ebenen31 hingewiesen, wir werden zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher darauf zurückkommen. Es sind dies die Ebene der Grundwerte, die Ebene der normativen Theorien, die Ebene der normativen Regelungen und die Ebene der Muster von Handlungen.

Schliesslich werden wir am Ende dieses Kapitels sehen, ob die Aussage Siegenthalers (vgl. nachfolgendes Zitat), die er im Zusammenhang mit der Theorie regelgeleiteten Handelns32 macht, auch für unsere Ergebnisse gilt:

"Nur verhält sich die Ausbildung der Krise zu den Ausgangsbedingungen ebenso kontingent, wie sich die kommunikativen Prozesse kontingent verhalten zu den Bedingungen des Kontextes der Krise: Die (...) Zusammenhänge sind nicht rigide determiniert und kaum prognostizierbar. Die theoretische Argumentation macht auf Vorgänge aufmerksam, auf die es ankommt; wie sich die Vorgänge entfalten, darüber schweigt sie sich aus. Letzlich überrascht die Geschichte eben doch."33

Können wir demnach bestimmend festhalten, was zum Zeitpunkt der grösstmöglichen Krise geschieht, "wie sich die Vorgänge entfalten"34 und was sie bewirken?

2.2 Rekapitulation Kapitel 1

Wir haben im ersten Kapitel Bornschiers Gesellschaftstheorie dargestellt und versuchten, damit das Ausgangsphänomen, die Diskrepanz zwischen den erfassten Straftaten und der Kriminalitätsfurcht, zu erklären. Diese veranschaulicht eine grundlegende gesellschaftliche Verunsicherung, die nicht mit gegebenen Verunsicherungsfaktoren erklärt werden kann. Sie hat mit dem sich auflösenden Gesellschaftsmodell zu tun, mit dem zerbröckelnden Basiskonsens. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Abbildung 1. Darin dargestellt ist einerseits die Entwicklung der erfassten Straftaten, andererseits die Entwicklung der Kriminalitätsfurcht. Die am nächsten liegende Vereinfachung unserer Fragestellung wäre die analytische Gleichstellung der Verunsicherung mit dem gesellschaftlichen Dissens. Die erfassten Straftaten entsprächen demnach dem gesellschaftlichen Konflikt. Dass eine so einfache Erklärung nicht möglich ist, haben wir bereits konstatieren müssen: die Kriminalitätsfurcht nimmt zu, bevor die Zahl der erfassten Straftaten sich deutlich verändert. Wir verstehen die Verunsicherung deshalb als nicht gestilltes Sicherheitsbedürfnis.

Gesellschaftliche Sicherheit stellt in jedem Sinne und in jedem gesellschaftlichen Teilbereich eine Herausforderung für moderne Gesellschaften dar. Zudem hat sie eine strukturelle und eine diskursive Seite. Da Sicherheit ein strukturbildendes Prinzip der westlichen Gesellschaften ist, können wir annehmen, dass in jeder Gesellschaft eine Sicherheitsstruktur existiert. Als Sicherheitsstruktur bezeichnen wir folglich jene Teile des Gesellschaftsmodells, die durch den Sicherheitsanspruch strukturiert sind, also auf die Gewährleistung von Sicherheit hin orientiert sind. Die Sicherheitsstruktur entspricht nicht einer einzigen Institution oder dem Staat schlechthin, sondern ist lediglich eine Abstraktion.

Alle Institutionen vereinen die drei Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Sicherheit in einer je spezifischen und widersprüchlichen Weise in sich. Das bedeutet, dass grundsätzlich jede Institution auf die eine oder andere Art auf Sicherheit hin organisiert ist. Institutionen müssen in unserer Perspektive nicht ausschliesslich, aber hauptsächlich auf Sicherheit ausgerichtet sein, um unter den Begriff Sicherheitsstruktur zu fallen.

Dabei spielt der Staat die Hauptrolle. Nur der Staat verfügt über das gesellschaftliche Gewaltmonopol. Der Staat allein ist befugt, physische Gewalt auszuüben und garantiert auf dieser Grundlage innerhalb des Staatsgebietes Sicherheit. Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel sind zumindest durch das Gesetz geregelt. Das Gewaltmonopol und die exklusive Aufgabe, physische Sicherheit zu gewährleisten, kennzeichnen den Bereich der Inneren Sicherheit. Die wichtigsten Institutionen der Inneren Sicherheit sind die Polizei, die Justiz, der Staatsschutz und das Militär. Der Staat ist sodann im Rahmen dessen, was unter dem Begriff Wohlfahrtsstaat verstanden wird, seit bald einem Jahrhundert darum besorgt, soziale Sicherheit zu gewährleisten. Darunter fallen die Sicherungsnetze, welche das Individuum vor Armut und anderen Notlagen bewahren sollen.

Neben dem Staatsapparat sind aber auch nicht-staatliche Akteure für die Gestaltung der Sicherheitsstruktur ausschlaggebend. So schreiben sich beispielsweise private Versicherungsgesellschaften oder Bewachungsinstitute ebenso tief in die Sicherheitsstruktur ein wie staatliche Institutionen. Sie konkurrieren je länger, desto mehr mit ihrem staatlichen Gegenüber und sind teilweise im Begriff, jenem den Rang abzulaufen.

All diese Institutionen und Regelungen bilden in ihren komplexen Verbindungen und Durchdringungen die Sicherheitsstruktur.

Die diskursive Dimension der Sicherheit ist ihrem Wesen nach komplex. Zum einen finden wir darin die Systeme von anerkannten Werten und Normen, welche als Leitplanken gesellschaftlichen Zusammenlebens bezeichnet werden können. Sie geben der Gesellschaft Regelsicherheit, indem ein Konsens darüber generiert wurde - und wird -, was "richtiges" und was "falsches" Verhalten ist, wie in bestimmten Situationen zu reagieren ist. Das Modell selber bietet also Sicherheit, indem es auftretenden Konflikt temperiert und so einen verbindlichen Rahmen für gesellschaftliches Agieren bildet.

Natürlich existiert die diskursive Dimension der Sicherheit auch im direkten Austausch mit der strukturellen Dimension. Alle auf Sicherheit ausgerichteten Institutionen und Regelsysteme werden von den sie hervorbringenden oder gar umkämpfenden Diskursen umgeben. Die diskursive Praxis kann als materielles Produktionsinstrument verstanden werden, durch das historisch-soziale Gegenstände, so auch der Begriff "Sicherheit", auf geregelte Art und Weise erst produziert werden. Dies schliesst nicht aus, dass "Sicherheit" als anthropologisch begründbarer gesellschaftlicher Anspruch verstanden werden kann; denn der Inhalt des Sicherheitsbegriffs war durch die Jahrhunderte der Geschichte nicht immer derselbe, er musste durch diskursive Praxis, durch intensive gesellschaftliche Auseinandersetzung immer wieder von neuem mit Inhalten belegt werden. Diese Inhalte bezeichnen nicht nur Normatives, nicht nur Werte und moralische Aussagen. Mit "Inhalt" kann durchaus auch eine strukturelle oder institutionelle Ausprägung von Sicherheit verstanden werden. Gerade durch diese Ambivalenz wird die diskursive Dimension von Sicherheit komplex. Dem Raum der Diskurse steht nicht einfach ein Raum der Dinge, der physischen Strukturen und Körper gegenüber: Die beiden Räume durchdringen, verändern und beeinflussen einander gegenseitig. Diskurse sind eben nicht bloss ein Schwall von Worten, eine Summe aller Bekenntnisse und Versprechungen in einem immateriellen Raum. Sie sind vielmehr selbst materiell, in ihrer Angewohnheit, sich in die Köpfe der Individuen und in technische Kommunikationssysteme einzuschreiben und so materielle Strukturen zu produzieren, welche dann wiederum auf sie zurückwirken.

In der Auseinandersetzung um eine allgemein gültige Belegung des Sicherheitsbegriffs mit je nach Epoche verschiedenen Inhalten spielt der Machtbegriff eine nicht zu unterschätzende Rolle. So werden im Diskurs die Machtnetze gespannt, und der Diskurs kann gleichzeitig die Macht selbst darstellen.

Damit wären wir eigentlich bereits mitten in der Diskurstheorie angelangt. Doch wollen wir zunächst von einer allgemeinen Betrachtung von Gesellschaftstheorien ausgehen um uns so der Gesellschaftstheorie Bornschiers wieder zu nähern.

2.3 Exkurs Gesellschaftstheorie35

Gesellschaftstheoretische Ansätze stehen vor dem grundlegenden Problem, zwei verschiedene Ausrichtungen von gesellschaftlichen Systemen darstellen zu müssen. Einerseits bestehen soziale Systeme aus relativ dauerhaften strukturellen Zusammenhängen. Diese Strukturen bilden eine Ordnung, geben also der Gesellschaft durch ihre Existenz Stabilität. Eine erste Ausrichtung gilt demnach dem Problemkreis der Stabilität gesellschaftlicher Strukturbildungen. Andererseits sind diese stabilen Zusammenhänge sowohl in ihren Teilbereichen, in den einzelnen Strukturen und Institutionen, als auch im Gesamtzusammenhang anpassungsfähig und veränderbar. Diese zweite Ausrichtung gilt dem Problemkreis des Wandels von gesellschaftlichen Strukturbildungen.

Für diejenigen Theorien, welche die Frage nach der Ordnung und dem Zusammenhalt der Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken, ist entscheidend, in welcher Form sich die Gesellschaft als ein relativ stabiles System konstituiert hat und wie sie diese Stabilität über eine gewisse Zeitspanne erhalten kann. Wesentliche Kräfte sind Kooperation, Integration und Koordination von Handlungen und Handlungszielen gesellschaftlicher Akteure. Der Kommunikation als Weg zur Konstituierung der Stabilität und als Mittel, der Stabilität Dauer zu gewährleisten, kommt eine bedeutende Rolle zu. Untrennbar damit verbunden sind gesellschaftliche Konzepte von Normen und Werten – Orientierungshilfe und Leitplanken des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Zur gesellschaftlichen Ordnung gehört nicht nur diese kommunikative, diese diskursive Seite, sondern auch ihre Ausgestaltung in Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen.

Grundlegend für diese Theorien ist, dass die Gesellschaft mittels Integration und Koordination von Handlungen nach einer stabilen Ordnung strebt, welche durch Werte und Normen getragen wird und sich durch Institutionen und Strukturen verfestigt. Sind diese Strukturen erst einmal vorhanden und besteht ein gesellschaftlicher Konsens darüber, wird versucht, diese Ordnung zu erhalten.

Diejenigen Theorien, welche den Wandel zum Objekt ihrer Untersuchung gemacht haben, untersuchen die Frage nach den Triebkräften gesellschaftlicher Entwicklung. Sie behandeln den Prozess, die Veränderung einer gegebenen Struktur, oder, ursachenbezogen, die Reaktion von Gesellschaften auf Störungen endogener und exogener Natur. Endogene Störfaktoren sind beispielsweise abweichendes Verhalten, Kriminalität oder Konflikte, als exogene Faktoren wären etwa Kriege oder Naturkatastrophen zu nennen. Diese Theorien gehen von einer vorhandenen Ordnung aus, welche aber nicht statisch bleibt, sondern einer ständigen gesellschaftlichen Überprüfung ausgesetzt ist. Der Konflikt wird nicht als zersetzend verstanden, sondern ermöglicht es einer Gesellschaft, sich neuen Gegebenheiten anzupassen; er ist konstruktives Mittel zum gesellschaftlichen Fortschritt und in dieser theoretischen Ausrichtung anthropologisch konstant. Gerade in dieser Konfliktträchtigkeit liegt die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung. Grundlegend für diese prozesshaften Theorien ist, dass die Gesellschaft dynamisch und potentiell konfliktträchtig ist und sich in dauernder Veränderung befindet.

2.4 Lokalisierung der Diskurse im Gesellschaftsmodell

Nach diesem kurzen Exkurs lässt sich abklären, in welcher Form die beiden grundlegenden Aspekte von Gesellschaftstheorien in Bornschiers Theorie einbezogen sind.

Der strukturelle Aspekt einer Gesellschaftstheorie, welcher die Ordnung und die Stabilität von Gesellschaften betont, und der prozesshafte Aspekt, welcher sich mit den Triebkräften gesellschaftlicher Entwicklung befasst, werden in Bornschiers Theorie vom Wandel der westlichen Gesellschaft ineinander verzahnt.

Der Problemkreis des Wandels von gesellschaftlichen Strukturbildungen findet sich im Konfliktverlauf eines Gesellschaftsmodells. In Bornschiers Theorie ist der Konflikt axiomatisch angelegt. Konflikt ist ein"(...)Dauerzustand des gesellschaftlichen Lebens"36.

Jede gesellschaftliche Ordnung kann zwar für eine gewisse Zeit den Anforderungen genügen, die das gesellschaftliche Zusammenleben an sie stellt. Aber der Problemkreis der Stabilität gesellschaftlicher Strukturbildungen, also die Frage nach dem Zusammenhalt einer Gesellschaft und dem Fortbestand dieses Zusammenhalts, macht deutlich, dass eine Ordnung, wenn sie sich einmal verfestigt hat, relativ träge ist. Nötige Anpassungen, des gesellschaftlichen, des technologischen, des ökonomischen und des politischen Fortschritts wegen, werden kaum vorgenommen – die Ordnung hat sich schliesslich schon eine gewisse Zeit bewährt. Doch wenn gewisse gesellschaftliche Teilbereiche der gängigen Ordnung voraus sind und auf Fortschritt nicht reagiert wird, eröffnet sich ein Konfliktpotential, welches bald zu Auseinandersetzungen auf jeder gesellschaftlichen Ebene führen muss.

Die drei strukturbildenden Prinzipien, das Effizienzstreben, das Gleichheitsstreben und das Streben nach Macht, unterliegen einem konfliktiven Zusammenspiel, finden sich aber zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Kompromiss. Dieser Kompromiss temperiert die Konflikte welche aufgrund der unterschiedlichen "universalistischen Ansprüchen von Menschen (...) und der partikulären Macht"37 in der Gesellschaft auftreten. Die universalistischen Ansprüche der Menschen werden bei Bornschier unter dem Begriff "Leitwerte" zusammengefasst. Er unterscheidet dabei vier Ebenen.38 Als erstes nennt Bornschier die Ebene der Grundwerte. Sie entsprechen den drei Prinzipien Gleichheit, Freiheit, also Selbstbestimmung und Sicherheit. Zusätzlich fügt Bornschier den wirtschaftlichen Fortschritt für Gesellschaften westlichen Zuschnitts dazu. Dieser ist zwar oftmals nur Mittel zum Zweck, wird aber je länger desto mehr entscheidend für staatspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.39 Die zweite Ebene beinhaltet normative Theorien. Bornschier grenzt diese von den Grundwerten insofern ab, als dass er sagt "Normen, könnte man sagen, regeln das Tun, Werte das Sein."40 Normative Theorien begründen also, wie gehandelt werden muss. Sie bieten Interpretationen zu den Grundwerten und entwickeln sie insofern weiter, als dass sie in Austausch mit der kulturellen Macht letztendlich bestimmen, wie die Wirklichkeit definiert werden soll. Normative Theorien sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Die dritte Ebene ist die Ebene der normativen Regelungen. Die Voraussetzungen, welche die normativen Theorien darstellen, werden in den normativen Regelungen praktisch ausgestaltet. Nicht nur normative Theorien, ja die universalistischen Leitwerte allein sind ausschlaggebend für die praktische Ausgestaltung, im Bereich der normativen Regelungen bildet sich der Kompromiss zwischen universalistischen Werten und den Machtinteressen. Als vierte und letzte Ebene bezeichnet Bornschier die Ebene der Muster von Handlungen. Diese umfassen die soziale Praxis und die sich aus dieser ergebende gesellschaftliche Machtverteilung.

Die Sozialstruktur besteht demnach einerseits aus den interpretierten kulturellen Leitwerten, welche zu Leitbildern der Gesellschaft werden, andererseits die Macht. Im Basiskonsens werden diese vereint und geregelt. Im Verlauf der Karriere des Gesellschaftsmodells aber können sich die Anforderungen an diesen Basiskonsens beträchtlich wandeln. Die Übereinkunft mindestens in grundlegenden Bereichen, das Handlungskonzept für den Umgang mit möglichen gesellschaftlichen Konflikten ist aber nicht auf Wandel vorbereitet. Die Inhalte dieser Übereinkunft können mit der Zeit aufgrund gesellschaftlichen Fortschritts nicht mehr als verbindliches Regelset genügen, was die durch den Fortschritt hervorgerufenen Konflikte zusätzlich verschärft und die gesellschaftliche Entwicklung stark vorantreibt. Entscheidend scheint dabei zu sein, wie die auftretenden Konflikte konstruktiv genutzt werden können. Das Gesellschaftsmodell, welches auseinanderbricht, ist nicht mehr in der Lage, genügend schnell auf diese Konflikte zu reagieren, da die Problemlösungskapazität des politökonomischen Regimes ausgeschöpft ist. In keinem Zeitpunkt des Konfliktverlaufs eines Gesellschaftsmodells verlangt die Gesellschaft stärker nach einem verbindlichen Konzept zum Umgang mit Konflikten, als dann, wenn das Gesellschaftsmodell auseinanderbricht.

Liegen nun die Ansätze dieses neuen sinnstiftenden Konzepts in den Ruinen des vergangenen?

Vergegenwärtigen wir uns die Bestandteile des Gesellschaftsmodells gemäss Bornschiers Konzepten. Sie sind in der Abbildung 3 mit allen ihren wechselseitigen Beziehungen abgebildet. Das von uns behandelte Problem der Verunsicherung haben wir weiter oben vereinfacht als nicht gestilltes Sicherheitsbedürfnis eingeführt. Da nun das Sicherheitsbedürfnis integraler Bestandteil des Gesellschaftsmodells ist, müssen wir auch den Umgang mit dem nicht gestillten Sicherheitsbedürfnis in dieser Darstellung verorten können.

Zudem stellen sich nach den obigen Erörterungen zwei Fragen: Wie wird im Gesellschaftsmodell eine Struktur, eine Ordnung gebildet? und: Ist die im Modell angelegte Konfliktträchtigkeit ausreichend, um den Wandels von Gesellschaftsmodellen zu erklären? Bornschier beschreibt drei strukturbildende Prinzipien und bezieht Normen und Regelungen mit ein, welche ihrerseits zur Bildung von Struktur beitragen. Wie wird nun aber diese Struktur gebildet, welche Mechanismen spielen dabei mit und welche Handlungen sind dafür verantwortlich? Ist es die axiomatische Konfliktträchtigkeit einer Gesellschaft, welche diese mit Konflikten konfrontiert, mit welchen die Gesellschaft ihrerseits konstruktiv umgeht? Der konstruktive Umgang mit Konflikten führt zumindest zur gesellschaftlichen Entwicklung. Die Frage nach dem "Wie", nach dem Konzept des Handelns gesellschaftlicher Akteure in dieser speziellen Situation wird uns in diesem Kapitel ebenfalls beschäftigen.

Wir möchten unsere Vorstellung davon insofern präzisieren, als wir zum jetzigen Zeitpunkt unserer Darstellung sagen, dass Kommunikation für alle diese Vorgänge wichtig sei. Vergesellschaftete Kommunikation aber haben wir weiter oben als Diskurs bezeichnet. Wir erwarten deshalb, dass zu diesem Zeitpunkt eine Phase intensiver Kommunikation, intensiver Diskurse stattfindet.

Ausgehend von den obigen Überlegungen können wir bereits bestimmen, mit welchen Problemen ein allfälliger Ersatz des auseinanderbrechenden Basiskonsenses zum Zeitpunkt der grösstmöglichen Krise umgehen können muss. Zunächst ist Reaktionsfähigkeit erforderlich, da die akuten Probleme rasche Behebung verlangen. Da ein Basiskonsens immer ein Kompromiss zwischen der Sozialstruktur und Machtinteressen ist, muss der Ersatz machtempfindlich sein. Zudem benötigt er die Fähigkeit, Integration zu bewirken, um einen Zustand der Legitimität wiederherzustellen.

Doch nun zurück zu den einzelnen Bestandteilen des Gesellschaftsmodells. Im Zusammenhang mit unserer Fragestellung werden wir den Fokus auf das politökonomische Regime als Ort politischer und ökonomischer Handlungen und Entscheidungen, auf das moralische Regime als normative Leitplanke für das gesellschaftliche Zusammenleben und auf die Macht, die inmitten aller Bestandteile steht und diese beeinflusst, richten. Dem Bereich des technologischen Stils kommt bewusst eine periphere Stellung in unseren Überlegungen zu. Damit klammern wir die Verunsicherung bezüglich der zunehmenden und stark risikobehafteten Technologisierung aus. Die Ökologiebewegung thematisierte in den 1980er und frühen 1990er Jahren globale Umweltrisiken, malte, unterstützt von Diskursen über Waldsterben, Treibhauseffekt, Ozonloch und Tschernobyl, Sintflutszenarien einer kollabierenden Umwelt an die Wand. Gegenwärtig stehen andere Sicherheitsrisiken im Mittelpunkt der (öffentlichen) Diskurse – etwa die zunehmende Gefahr von Kriminalität, wie wir in unserem Ausgangsbeispiel gesehen haben. Deshalb erlauben wir uns, unser Augenmerk von den Technologierisiken abzuwenden und unsere Fragestellung nur an den politökonomischen und moralischen Bereichen des Gesellschaftsmodells zu überprüfen.

2.4.1 Das politökonomische Regime

Das politökonomische Regime ist der Ort aller auf Politik und Ökonomie ausgerichteten Handlungen und Strukturen. Den Begriff "politisch" verwendet Bornschier deshalb, weil "kollektiv verbindliche Prozesse"41 im Bereich abgesteckter Territorien stattfinden. "Ökonomisch" ist das Regelsystem, weil es wirtschaftliche Entscheidungsfindung und wirtschaftliches Handeln direkt betrifft.

Bornschier betont die ökonomische Komponente der westlichen Gesellschaft stark, indem er zeigt, dass der gesellschaftliche Wandel direkte Auswirkungen auf wirtschaftliche Zyklen hat. Er führt Politik und Ökonomie in einem Konzept zusammen, womit gesellschaftliche Wechselwirkungen von Politik und Ökonomie in einem Modell abstrahiert werden. Das politökonomische Regime entspricht somit einem Regelsystem, welches eine Übereinkunft politischer und ökonomischer Akteure bezüglich ihrer Handlungen darstellt.42

Das politökonomische Regelsystem hat vier zentrale Komponenten. Es bestimmt erstens den Grad der politischen und wirtschaftlichen Partizipation, die der Gesellschaft vom Regime erlaubt wird. Als zweites muss die Sphäre des Marktes von der kollektiven, der staatlichen Sphäre abgegrenzt sein und beider Rechte und Pflichten formuliert werden. Im "Komplex der kollektiven Willensbildung"43, der dritten Komponente, sind Mechanismen der Konsensbildung verortet sowie derjenige Bereich der Gesellschaft, in dem Konfliktverarbeitung stattfindet. Bornschier fasst diesen Bereich ausschliesslich strukturell. Er nennt die politische Machtstruktur, auf der das Regime gegründet ist, sowie vor- und ausserparlamentarische Regelungssysteme. Den Prozess der kollektiven Willensbildung, die Diskurse um die Machtstruktur und um die Regelungssysteme klammert er dabei aus. Als viertes gehört die politökonomische Machtkonstellation zu den Komponenten. Reine Machtpolitik ist jedoch auch ohne ein politökonomisches Regime vorhanden.

Im politökonomischen Regime sind Regelungen normativer Natur einschliesslich ihrer institutionellen Ausgestaltungen enthalten. Diese unterliegen einem "Begründungszwang"44 und sind mehr als ein Instrument derjenigen, welche Macht besitzen. Die Begründungen der normativen Regelungen unterliegen einem "moralischen Rahmen";45 sie werden durch Werte beeinflusst – Werte bieten einer Gesellschaft Orientierungshilfe bei der Ausgestaltung ihres "Basiskonsenses" an.

"Die Vorstellung von Regimes beinhaltet, dass nicht dauernd nur nach Massgabe der puren Machtverhältnisse gehandelt wird und nicht dauernd Konflikt derart besteht, dass unüberbrückbare Gräben zwischen Gruppen im politischen Kampf gezogen sind. Vielmehr gibt es in einem Regime ein "common understanding", eine Übereinkunft zumindest in grundlegenden Bereichen und in bezug darauf, wie Konflikte "friedlich" zu lösen sind. Ein solcher Basiskonsens bedeutet nichts anderes als sozialer Frieden (...).46

Dieser an das politökonomische Regime gebundene Basiskonsens ist derjenige, der uns im Rahmen unserer Fragestellung interessiert.47

Nach Bornschiers Theorie sind die zwei Grundwerte48, das Effizienzstreben und der Anspruch auf Gleichheit49, Bausteine eines jeden Gesellschaftsmodells. Aus diesen beiden Werten sind mittels normativer Theorien ganze Systeme von Ansprüchen ableitbar. Durch normative Theorien können Werte interpretiert werden und dadurch normativ begründen, wie gehandelt werden soll. Ihre Ausgestaltung ist – im Idealfall – unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnissen und -konstellationen; einzig die kulturelle Macht, die in ihrer basalsten Ausgestaltung der Weltdeutung50 entspricht, hat unmittelbar Einfluss auf normative Theorien einer Gesellschaft.

Normative Regelungen hingegen sowie deren institutionelle Verankerung werden sowohl durch politische und wirtschaftliche Macht als auch durch Werte beeinflusst.

Bornschier nennt zwei Bewertungsprozesse, mittels derer ein politökonomisches Regime bewertet wird.51 Als erstes stellt sich die Frage nach der Legitimität eines Regimes. Je höher die Legitimität eines Regimes ist, desto kleiner ist die Möglichkeit von Konflikten – und desto kleiner ist die Notwendigkeit, zur Unterdrückung der Konflikte Gewalt anzuwenden. Die Legitimität eines Regimes misst sich an der Einbindung der normativen Regelungen in die kulturellen Leitwerte. Es wird also untersucht, inwieweit sich die Gesellschaft an das Regelsystem hält. Im ersten Bewertungsprozess wird die Massenloyalität gegenüber dem Regime, im zweiten Prozess die Interessenlage der Eliten bewertet. Diese klären ab, ob das Regime ihren Interessen dienlich ist oder ob sie durch Einsetzen reiner Machtpolitik ihre Ziele besser erreichen könnten; es wird also die Elitenloyalität gemessen. Nimmt in beiden Bereichen die Loyalität ab, so wird das Regime mangels Zustimmung zusammenbrechen.

Das politökonomische Regime ist demnach permanent einer inneren Überprüfung, einer Bewertung, unterworfen. Da es aber selber in einem grösseren Zusammenhang steht, in demjenigen des Gesellschaftsmodells nämlich, ist es den Mechanismen dieses grösseren Zusammenhangs ebenfalls unterworfen.

Abbildung 5

Begründung und Beeinflussung von Regelungen52

Die Begründungs- und Beeinflussungspfeile symbolisieren die Auseinandersetzungen um die Moral, um Werte, um normative Theorien und um das Regelset, welches das Regime erst ausformiert. Diese finden auf einer kommunikativen Ebene statt. Ebenso sind die Strukturen, die durch das politökonomische Regime ausgearbeitet werden, einer Überprüfung ausgesetzt. Noch fehlt die konkrete Beschreibung dieser kommunikativen Mechanismen, dieser Diskurse. Wir werden aber nach der Behandlung des moralischen Regimes darauf zurückkommen.

2.4.2 Das moralische Regime

"Gesellschaftsmodelle sind Moralausformungen, die auf Zeit zu einem Grundkonsens werden."53

Bornschier siedelt, wie wir in der Abbildung 3 gesehen haben, das moralische Regime ausserhalb – oberhalb – des politökonomischen Regimes an. Seine Ausführungen zum moralischen Regime beschränken sich auf wenige generellen Aussagen, welche wir im Abschnitt über das politökonomische Regime erwähnt haben. Im Bereich des moralischen Regimes wird die moralische Übereinkunft des Gesellschaftsvertrags geschlossen. Es hat in diesem Zusammenhang eine Schlüsselstellung.

"Wenn ein politökonomisches Regime erodiert ist und sich die Elemente eines neuen technologischen Stils schon entwickelt haben, findet eine längere Theoriedebatte statt. (...) Gewinnen normative Theorien überhand, die eine positive Zukunft perzipieren, dann gehen davon Aufforderungen an die Praxis aus, die institutionellen Vorkehrungen im Rahmen eines erneuerten Sozialpaktes zu schaffen (z.B. Bewältigung der Übergangsarbeitslosigkeit, Bereitstellung der nötigen Infrastruktur, Regulierung der Wirtschaft, Umweltverträglichkeit etc.), unter denen die Zukunft mit einem neuen technologischen Stil akzeptabel, ja wünschenswert wird."54

In den Theoriedebatten wird die mögliche Ausgestaltung der Zukunft kommuniziert. Dieser Punkt ist entscheidend, wenn wir die Diskurstheorie in Bornschiers Theorie vom gesellschaftlichen Wandel verankern wollen. Zum Zeitpunkt der Erosion des politökonomischen Regimes beginnt im moralische Regime die gesellschaftliche Kommunikation um die neue Gestaltung des zukünftigen Modells. Ausgehend von Leitwerten werden normative Theorien gebildet, welche ihrerseits von der kulturellen Machtstruktur beeinflusst sind. Diese normativen Theorien bilden zusammen mit der sozialen und der wirtschaftlichen Machtstruktur normative Regelungen und Institutionen, welche als Kompromiss zwischen interpretierten Werten, Moral und Macht bezeichnet werden können. Aus diesen normativen Regelungen ergibt sich die soziale Praxis mit der aus dem Kompromiss resultierenden Machtverteilung. Werte, Prinzipien und Normen sind grundlegende Bestandteile einer gesellschaftlichen Moral; Regelungen und Prozeduren gelten hingegen als deren Realisierung, als deren spezifische Ausgestaltung. Diese Ausgestaltung kann sich ändern, ohne dass sich die ihr zugrundeliegenden Prinzipien und Normen anpassen.55 Veranschaulichen wir uns die Zusammenhänge von Werten, Normen, Regelungen mit der gesellschaftlichen Machtstruktur in der Abbildung 5.

Die vergesellschaftete Kommunikation, der Diskurs, hat die Schlüsselposition inne. Er ist aber nicht nur im moralischen Regime anzusiedeln. Ein wichtiges Charakteristikum des Diskurses ist es ja, alle gesellschaftlichen Bereiche zu durchdringen, nicht nur die kommunikative Ebene einer Gesellschaft, sondern auch die strukturelle Dimension zu beeinflussen und zu umschliessen. Versuchen wir, die Diskurse im Gesellschaftsmodell zu lokalisieren und diejenigen Verbindungen, welche Diskurse um die Sicherheit symbolisieren, auch so zu bezeichnen. Dafür überarbeiten wir die Abbildung 3.

Da wir die Verunsicherung durch Technologieriskien ausklammern, zeichnen wir den Diskursstrang, welcher den Umgang mit Technologie thematisiert, in dieser Abbildung nicht ein und konzentrieren uns auf die übrigen Bereiche, in denen gesellschaftliche Verunsicherung konstatiert werden kann.

Im moralischen Regime findet sich die durch das sich zersetzende Gesellschaftsmodell ausgelöste gesellschaftliche Verunsicherung in bezug auf Werte, Normen und der gesellschaftlichen Moral. Diese Verunsicherung ist grundlegend, weil sie einem Verlust an Vertrauen in die gesellschaftlichen Leitwerte bedeutet. Die Verunsicherung im politökonomischen Regime verursacht eine Vertrauensverlust bezüglich der politischen und ökonomischen Strukturen. Im Bereiche der Macht bewirkt die Verunsicherung ein generelles Überdenken der gesellschaftlichen Machtverteilung.

Alle diese Bereiche sind ineinander verwoben. Dies nicht nur strukturell, sondern vor allem auch diskursiv.

In jedem dieser gesellschaftlichen Bereiche existieren Diskurse und zwischen ihnen wirken neben dem Sicherheitsdiskurs noch viele andere spezifische Diskursstränge.

 

Abbildung 6

Die diskursiven Zusammenhänge im Gesellschaftsmodell

2.5 Einige allgemeine Bemerkungen zur Diskurstheorie

Über Diskurse existieren in den Sozialwissenschaften geteilte Auffassungen. Allgemein bezeichnet der Begriff Diskurs das sukzessive, logische Fortschreiten von einem bestimmten Argument zu einem anderen durch begriffliches ("diskursives") Denken. Verschiedene Theoretiker haben sich des Diskurses angenommen und den Begriff mit unterschiedlichen Vorstellungen belegt.

Wir können Diskurs im marxistischen Sinne als Überbau verstehen. Der Diskurs wird von der materiellen Basis der Gesellschaft, also von den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, bestimmt, nach dem Prinzip: "Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein." Aus marxistischer Sicht kommen Meinungen und Ideologien, welche sich in Diskursen manifestieren, aufgrund materieller Interessen zustande. Was gesellschaftliche Akteure sagen, ist Ausdruck ihrer Klasseninteressen. Diese eindimensionale Auffassung von Diskurs führt zu einem verkürzten Blick, indem die Wechselbeziehungen zwischen Struktur und Diskurs ausgeklammert bleiben. Interessant für unsere Fragestellung ist aber der Aspekt, dass Diskurse an die materiellen Interessen der Akteure gebunden sind.

Jürgen Habermas unterscheidet in seiner Theorie kommunikativen Handelns56 zwei verschiedene Ebenen der Kommunikation. Im kommunikativen Handeln ist der Informationsaustausch angesiedelt. Die Geltung von Sinnzusammenhängen und die Legitimität von Werten und Normen sind dabei als unproblematisch, als gegeben vorausgesetzt. Eventuell auftretende Meinungsverschiedenheiten können nur auf der Ebene des Diskurses erörtert werden. Dort werden die Geltungsansprüche von Normen, Werten und Argumenten, die auf der Ebene des kommunikativen Handelns zum Problem geworden sind, durch systematische Begründung wiederhergestellt. Habermas’ Unterscheidung ist analytischer Natur; kommunikatives Handeln und Diskurs sind unmittelbar aufeinander bezogen. Habermas beschreibt den Diskurs als eine möglichst herrschaftsfreie, rational argumentierende, öffentliche Debatte über bestimmte Gegenstandsbereiche, sagt also, dass Diskurse primär herrschaftsfrei, rational und machtneutral sind.

Dieser Ansatz ist für uns insofern uninteressant, als er die Machtneutralität der Diskurse betont. Auch wenn – oder gerade wenn – Akteure rational handeln, ist der Machtfaktor, auch der zukünftige Machtfaktor, ein nicht zu unterschätzendes Element im Diskurs.

Jürgen Link, ein zeitgenössischer Diskurstheoretiker definiert hingegen Diskurs als institutionalisierte, geregelte Redeweisen, insofern sie an Handlungen gekoppelt sind und demnach Machtwirkung ausüben.57

Diskurse sind damit nicht primär Ausdruck gesellschaftlicher Praxis, sondern zweckrational an Machtausübung gebunden. Diese Interpretation könnte besonders im Zusammenhang mit unserer Fragestellung fruchtbar werden.

Andere Ansätze gehen so weit, dass der Diskursbereich und der Bereich der durch Diskurse konstituiert wird, als "psychischer Bereich"58 verstanden wird. Anhänger dieser Richtung untersuchen, inwiefern sich in Texten Zeichenkomplexe als unbewusste Wunschvorstellungen artikulieren. Diese Ansicht scheint uns zu vage; sie ist für unsere Fragestellung eher uninteressant, da wir annehmen, dass Diskurse gelenkt werden können und Interessen der Akteure darin wirksam sind.

Michel Foucault hat den nachhaltigsten Einfluss auf den Diskursbegriff ausgeübt. Seit den frühen siebziger Jahren wird über seinen Diskursbegriff diskutiert, und die meisten WissenschafterInnen, die sich der Diskurstheorie angenommen haben, berufen sich letztendlich in der einen oder anderen Form auf Foucaults Überlegungen. Linguistisch-erzähltheoretische Diskursbegriffe haben den wohl bedeutendsten Diskurstheoretiker beeinflusst. So wurde beispielsweise zwischen dem "sprachlichen Netz der Sprecher-Instanz" und den nicht durch die Sprecher-Instanz markierten Elementen unterschieden.59 Die Äusserungen einer Sprecher-Instanz wird dabei als Diskurs verstanden, als Diskurs in dem (linguistischen) Sinne, dass notwendigerweise sprachliche Strukturen vorliegen müssen, bevor eine Sprecher-Instanz eine Aussage machen kann. Diejenigen sprachlichen Elemente, welche nicht durch eine Sprecher-Instanz generiert werden, werden als Geschichte oder Bericht bezeichnet. Noch systematischer wurde gesagt, dass die Strukturen des Diskurses von erzählerischen (Tiefen-)Strukturen regiert würden. Foucault geht noch einen Schritt weiter, indem er alle gemachten Äusserungen als Diskurs bezeichnet. Somit werden die Sprecher-Instanzen nicht mehr nur linguistisch, "sondern gerade auch in ihren Subjektivitätsstrukturen und -effekten von transindividuellen Regelungen und Regeln bestimmt."60

Er sagt,

"dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen."61

Der Diskurs ist die sprachliche Seite einer diskursiven Praxis. Darunter versteht Foucault den gesamten Bereich der Wissensproduktion, bestehend aus Institutionen, Verfahren von Wissenssammlung und Wissensverarbeitung, aus Akteuren und den Regeln von Versprachlichung, von Verschriftlichung und von Medialisierung. Dabei werden Spezialdiskurse generiert, also etwa der juristische Diskurs oder der medizinische Diskurs, welche nur einen speziellen Bereich der Wissensproduktion umfassen.

Foucault untersucht ebenfalls die Verbindung zwischen "Wörtern" und "Dingen", zwischen Diskursen und ihren Gegenständen. Weiter oben haben wir schon erwähnt, dass historisch-soziale Gegenstände nicht a priori vorhanden waren und durch Diskurse mehr oder weniger verzerrt wahrgenommen werden: Die diskursive Praxis kann als materielles Produktionsinstrument bezeichnet werden, welches auf geregelte Weise die historisch-sozialen Gegenstände erst produziert.

Foucault betont den engen Zusammenhang von Diskursen und diskursiven Praktiken. Zudem weist er darauf hin, dass Diskurse eine häufig lange andauernde Stabilität besitzen, ihr Zerfall und ihre Neuformierung aber sprunghaft geschieht.

Um zu einer allgemeinen Definition zu kommen, die alle uns interessierenden Aspekte des Diskurses in sich vereint, sagen wir, dass der Diskurs einem strukturierten und geregelten "Fluss von Wissen durch die Zeit" entspricht.

Dieser lässt sich, bildlich gesprochen, wie jeder andere Fluss oder Bach stauen, umleiten oder eindämmen. Diskurse haben eine Vergangenheit, existieren in der Gegenwart und werden sich zukünftig weiterentwickeln. Sie werden zwar "gemacht", jedoch auf Grundlagen, die in der Vergangenheit und in der Gegenwart anzusiedeln sind. Die historische Tradition, der sozialgeschichtliche Hintergrund und die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse – sowohl ökonomisch als auch politisch – speisen den aktuellen Diskurs.

Der Grund, warum Diskurse bewusst eingesetzt werden, hängt eng mit der vorhandenen oder der gewünschten Macht zusammen.

Mit allen diesen Aspekten hängt nun die Frage zusammen, wie und warum sich Diskurse verbreiten. Die Macht des Diskurses bestimmt die Geschwindigkeit und die Intensität der Verbreitung. Je komplexer reale Abläufe sind, desto eher wird auf Diskurse gewartet, die die Welt vereinfachen, und desto unreflektierter werden sie als Weltdeutungsmuster angenommen.

2.6 Diskurs und Macht

Viele Diskurse sind also zweckrational an Handlungen und damit an Handlungsmacht gebunden. Analog zur Macht, welche Bedrohung durch Gegenmacht erfahren kann, entstehen auch zu Diskursen Gegendiskurse. Wir können festhalten, dass ein Diskurs Machtwirkungen insofern ausübt, als er ein Feld von Äusserungen beschreibt, welches andere Äusserungen, ja ganze Bereiche ausschliesst.

Die Macht der Diskurse kann nicht der einzige Machtfaktor in einer Gesellschaft sein, doch haben die Diskurse einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf gesellschaftliche Ereignisse.

Foucault beschreibt Macht als

" die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; ... Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt. Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall."62

Macht ist

"keine Sache, die man innehat; kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert."63

Damit verweist er auf Funktionen der Macht, auf einen objektiven Charakter und auf die Unabhängigkeit von konkreten Personen oder Rollen. Macht hat für Foucault strategischen Charakter. Macht ist ein weiter Bereich von Beziehungen, Praktiken und Diskursen, sie ist vielschichtig und vereint historische, kulturelle und soziale Dimensionen in sich. Nur so verstanden bleibt der Machtbegriff auch im Zusammenhang mit Diskursen haltbar:

"Ein Machtbegriff, der den komplexen Zusammenhang zwischen Diskurs und Machtverhältnissen gerecht werden will, muss sowohl die ausserdiskursiven, strukturellen Bedingungen als auch die innere Dynamik des politischen Diskurses erfassen. Weder darf er von dem strukturellen Aspekt der Macht abstrahieren, indem er diese auf die Ressourcen einzelner Personen, Positionen oder Gruppen abstrahiert, noch von dem konflikttheoretischen, indem er Macht rein funktional beschreibt und damit ihre repressive Dimension ausblendet."64

Macht wird durch Diskurse ausgeübt, die Diskurse müssen selber als Machtfaktor bezeichnet werden und tragen damit ihrerseits rückwirkend zur Verfestigung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen bei. Damit sich diese Zusammenhänge besser erfassen lassen, muss das Verhältnis von Diskurs und Wirklichkeit genauer betrachtet werden.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird in Diskursen nicht einfach reproduziert – Diskurse haben ein Eigenleben. Sie stellen eine eigene Wirklichkeit dar, welche der "wirklichen Wirklichkeit" gegenüber eine eigene Materialität besitzt und sich aus aktuellen und vergangenen Diskursen speist. Diskurs ist eben nicht nur verzerrte Wirklichkeitssicht oder Ideologie, wie die marxistischen Ansätze vereinfachend kritisieren.

Sehr wichtig für die Durchsetzungskraft und damit für die Macht eines Diskurses sind Kollektivsymbole.65 Sie suggerieren virtuelles gesellschaftliches und subjektives Wissen. Sie bilden ein symbolisches Weltdeutungsmuster, durch das die komplexe, undurchschaubare Welt einfacher zu verstehen ist.

"Während wir in der realen Gesellschaft und in unserem realen Subjekt nur sehr beschränkt den Durchblick haben, fühlen wir uns dank der symbolischen Sinnbildungsgitter in unserer Kultur stets zuhause. Wir wissen nichts über Krebs, aber wir verstehen sofort, inwiefern der Terror Krebs der Gesellschaft ist."66

Vergegenwärtigen wir uns Abbildung 5, in der wir die Diskurse um die gesellschaftliche Verunsicherung eingezeichnet haben. Die Macht steht im Zentrum dieser Beziehungen und strukturiert und beeinflusst jeden Bestandteil des Gesellschaftsmodells. Wir können sagen, dass, analog zur Macht, die diskursive Macht einen ebensolchen Einfluss auf jeden einzelnen Bestandteil dieses Modells hat, dies einerseits auf einer strukturellen Ebene, in Diskursen um die Struktur jedes einzelnen Bestandteils, andererseits auf der diskursiven, indem sie Diskurse zu beeinflussen sucht.

2.6.1 Diskursive Macht und Sicherheit

Die diskursive Macht, die einen grossen Teil der Weltdeutungsmuster produziert, ist selber Bestandteil des Diskurses. Auch sie ist nicht fest vorgegeben, sie ist ständig in Bewegung und muss sich für ihre Existenz rechtfertigen.

Sicherheit ist, wir haben es schon mehrfach gehört, ein grundlegender Anspruch der Gesellschaft. Wie "Sicherheit" jedoch interpretiert wird, welche Bestandteile zur Sicherheit gehören, konkreter, ob etwa soziale Sicherheit, wirtschaftliche Sicherheit oder "Innere Sicherheit" gefordert und bereitgestellt werden, hängt von politischen Forderungen und historischen Gegebenheiten ab. Wer bestimmt nun, mit welchem Inhalt "die Sicherheit" belegt wird? Die Basis, welche in einer Demokratie67 per definitionem eigentlich die Macht haben sollte? Diejenigen, bei denen die Fäden der Macht wirklich zusammenlaufen?

Wie die Priorität der einzelnen Bestandteile der Sicherheit in der Öffentlichkeit eingeschätzt wird, kann nicht allein durch das Beobachten realer Ereignisse und daraus gefolgerter logischer Schlüsse erklärt werden. Ein reales Ereignis kann im Diskurs verändert dargestellt werden. Es entsteht ein diskursives Ereignis, welches mit dem realen Ereignis nur noch lose verbunden ist. Die daraus folgenden Handlungen können dann auf ein Ziel zusteuern, welches möglicherweise grundsätzlich verschieden ist von dem, was, ausgehend vom realen Ereignis, denkbar und sinnvoll wäre. Einerseits kann so selbst eine Katastrophe bagatellisiert werden, indem das reale Ereignis abgeschwächt dargestellt und zum harmlosen diskursiven Ereignis gemacht wird, was beispielsweise häufig bei Umweltkatastrophen geschieht. Andererseits können durch die veränderte Darstellung der Ausgangslage Massnahmen zum Erreichen von Zielen durchgesetzt werden, welche dem realen Ereignis keineswegs angemessen sind, sondern weit darüber hinausgehen.

Unser Ausgangsphänomen der erfassten Straftaten und der zunehmenden Kriminalitätsfurcht spiegelt diesen Umstand auf eindrückliche Weise. So beobachten wir eine Zunahme der Kriminalitätsfurcht, ohne dass die erfassten Straftaten zunehmen. Beeinflusst wird diese verzerrte Wahrnehmung durch Diskurse, welche die Legitimitätsprobleme des sich zersetzenden Gesellschaftsmodells auf den Scheinschauplatz der Kriminalität verschieben. Die Legitimitätsprobleme des Gesellschaftsmodells haben wenig zu tun mit dem (diskursiven) Problem der Kriminalität. Den Ausgangspunkt bilden die Konflikte um das auseinanderbrechende Gesellschaftsmodell, um die erschöpfte Problemlösungskapazität des politökonomischen Regimes und die Unfähigkeit des moralischen Regimes, weiterhin sinnstiftende Leitplanken für das gesellschaftliche Zusammenleben zur Verfügung zu stellen. Zum Zeitpunkt des grösstmöglichen Konfliktes ist die Wiederherstellung von Loyalität gegenüber einem neuen Konsens von entscheidender Bedeutung. Wir haben gesehen, dass es bei den Bewertungsprozessen um das politökonomische Regime zwei Arten von Loyalität gibt: die Massenloyalität und die Elitenloyalität.68 Sowohl die Gesellschaft als auch die Eliten haben Interesse daran, dass diese Loyalität schnellstmöglich hergestellt wird. Wenn sich die Gesellschaft loyal gegenüber einem neuen Entwurf von Basiskonsens zeigt, kann daraus ein neues Regime, ein neues Gesellschaftsmodell entstehen. Eliten verhalten sich dem Entwurf gegenüber loyal, wenn ihre Interessen darin grösstmögliche Erfüllung finden. Die Massenloyalität ist für die Eliten fast ebenso entscheidend, wie die Erfüllung ihrer Interessen im neuen Entwurf. Sie sind nämlich massgebend an der Ausarbeitung des neuen Entwurfs beteiligt. Die Massenloyalität bekommt damit eine nicht unwichtige Rolle bei der Entscheidung über die Zukunft der MachtträgerInnen. Da sich alle Bestandteile des Gesellschaftsmodells in einem desolaten Zustand befinden, ihre Reaktionsunfähigkeit auf die auftretenden Konflikte und ihre allgemeine Trägheit im Umgang mit gesellschaftlichem Fortschritt die rasche Formierung eines neuen Basiskonsens verhindert, müssen neue Kräfte deren Aufgabe übernehmen. Diskurse bieten sich für die Wiederherstellung von Loyalität an. Durch ihre Omnipräsenz lassen sich Diskurse schnell instrumentalisieren und durch ihre Eigenschaft, Ereignissen einen "diskursiven Spiegel" vorhalten zu können, lässt sie integrierend wirken und Sinn stiften. In Diskursen wird demnach über den Entwurf eines neuen Gesellschaftsmodells verhandelt. Haben sich spezielle Diskurse so verfestigt, dass sie die Ordnungsfunktion des Basiskonsenses zumindest für kurze Zeit simulieren können, ziehen sie institutionelle und strukturelle Anpassungen nach sich.

Wir können beobachten, dass analog zur Formierung eines neuen Gesellschaftsmodells, den instrumentalisierten Diskursen eine institutionelle Ausgestaltung der in den Diskursen festgelegten Handlungsziele folgt. Sind die Diskurse nur Vorläufer eines neuen Gesellschaftsmodells? Oder finden ihre Inhalte uneingeschränkt Eingang in die Neuformierung? Wir können diese Fragen an dieser Stelle nicht schlüssig beantworten. Anzunehmen ist, dass die Diskurse sich mit der Zeit zu Bestandteilen eines neuen Basiskonsenses verfestigen. Vergegenwärtigen wir uns nämlich ihre Aufgabe im Tiefpunkt des Gesellschaftsmodells, so sehen wir, dass die Diskurse zumindest kurzzeitig die Legitimität wiederzubeleben vermögen. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass auf diese sinnstiftenden Elemente im neuen Gesellschaftsmodell zumindest am Anfang nicht verzichtet werden kann. Wenn wir zudem bedenken, dass die Diskurse Sicherheit thematisieren, ist zusätzlich wahrscheinlich, dass gewisse Elemente der Diskurse in das neue Gesellschaftsmodell einfliessen werden.

Die Sicherheit beziehungsweise das nicht (mehr) gestillte Sicherheitsbedürfnis drängt sich aus zwei verzahnten Gründen zur Instrumentalisierung durch Diskurse auf. Erstens ist Sicherheit grundlegendes Bedürfnis einer jeden Gesellschaft. Sie ist in jedem Bestandteil eines Gesellschaftsmodells enthalten, und dem Basiskonsens kommt bezüglich der Sicherheit eine grundlegende Rolle zu. So ist er, wie wir weiter oben bereits gesehen haben, durch seine Existenz schon Garant für Sicherheit, indem er Regelsicherheit produziert, das gesellschaftliche Leben mit Leitplanken gesellschaftlichen Handelns versorgt. Zweitens umfasst der Basiskonsens die Übereinkunft über die Zustimmung zur Sicherheitsstruktur, indem die institutionelle Ausgestaltung der Sicherheit dem Basiskonsens, der Zustimmung der Gesellschaft unterworfen wird. Wie diese Mechanismen in der Praxis aussehen, wie diese Diskurse "tönen", werden wir im Kapitel 5 sehen.

Damit die Ereignisse besser verstanden werden können, soll der Zusammenhang von Basiskonsens und Diskurs genauer herausgearbeitet werden.

2.7 Diskurs und Basiskonsens

Der Basiskonsens ist ein bestimmter Zustand der gesellschaftlichen Diskurse, ein Set von Regeln des Ausschlusses bestimmter Meinungen; ein Zustand, in dem abweichende Meinungen nicht mehr geäussert werden können, ohne marginalisiert zu werden. Er ist eine spezifische Form der Kontrolle, der Selektion, Organisation und Kanalisation des Diskurses. Es handelt sich um einen Konsens, der einen Inhalt besonders hervorhebt und dadurch das auszeichnet, was nicht mehr artikuliert wird oder im Extremfall gar nicht mehr gedacht werden kann, was undenkbar geworden ist. Wie wir den Basiskonsens im politökonomischen Regime als Übereinkunft "zumindest in grundlegenden Bereichen und in bezug darauf, wie Konflikte friedlich zu lösen sind"69 bezeichnet haben, so können wir ihn als Übereinkunft bezüglich eines herrschenden Diskurses70 verstehen. In dieser Hinsicht ist der Basiskonsens selber sowohl eine Form der Macht als auch eine Form der Sicherheit.

Er ist eine Form der Macht, weil er abweichende Meinungen zu marginalisieren oder gar zum Verschwinden zu bringen, sie in den Bereich des Undenkbaren und Nicht-Artikulierbaren zu verschieben vermag.71 Er entspricht dem Kompromiss um das machtpolitische Arrangement gesellschaftlicher Gruppen. Solche Arrangements werden übersetzt in Institutionen und Strukturen, in Gesetzestexte und normative Regelungen. Sie durchströmen aber auch als Meinungen die Öffentlichkeit, bestimmen die Sprechakte von Politikern und Individuen. Auf diese Weise erlangen sie umfassende und bedeutende Kraft, denn sie vermögen das alltägliche Denken, Handeln und die persönlichen Einstellungen zu lenken.

Zugleich ist der Basiskonsens eine Form von Sicherheit. Er ist ja aus dem konfliktiven Diskurs eines werdenden Gesellschaftsmodells entstanden, aus der Suche nach einem Arrangement, dem Kompromiss zwischen divergierenden Grundwerten, und hat sich als gemeinsamer Nenner der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse der in den Machtzirkel eingebundenen sozialen Gruppen etabliert. Der Basiskonsens wird als Regelsicherheit wirksam; er wiegt die Nachteile, die ein Kompromiss für die beteiligten Gruppen mit sich bringt, dadurch auf, dass er als verlässliches und verbindliches Set von Handlungsregeln Geltung hat. Die gesellschaftlichen Gruppen gewinnen im Basiskonsens jene Orientierung und jene Leitplanken des Handelns, die notwendig sind, um Handlungsabläufe der Politik oder der Warenproduktion in Institutionen und Routinen zu übersetzen. Dies ist für die Effizienz der Produktion von Sinn und Waren enorm wichtig: Erwartungen und Prognosen müssen sich an einem Set von verbindlichen Regeln orientieren.

Der Basiskonsens ist ein Phänomen des entfalteten Gesellschaftsmodells. Er vermag die ungebremste Entfaltung eines Produktionsparadigmas und einer kulturellen Entwicklung zu unterstützen, indem die "grosse Mehrheit" oder die berühmten "zwei Drittel" den Entwicklungen relativ unreflektiert zustimmen.

Ein hoher Basiskonsens stellt Wachstum, Stabilität und Legitimität her und misst diese gleichzeitig. Er verspricht Regelsicherheit und Meinungssicherheit, welche die öffentliche Meinung erst berechenbar machen. Berechenbar deshalb, weil der Basiskonsens ein Klima schafft für gemeinsamen Aufbruch und kollektive Verwirklichung der Leitideen und Versprechungen des Gesellschaftsmodells sowie des aktuellen Produktionsparadigmas. Er verlagert aber den Raum für Minderheitsmeinungen und Minderheitsinteressen in den Bereich des gesellschaftlichen Aussenseitertums und der Randgruppen. Wenn eine stabile Mehrheit regiert und ein Basiskonsens besteht, ist für abweichende Meinungen kaum mehr Platz. Dies führte im Nachkriegsmodell mehrfach zu Konflikten und Auseinandersetzungen und begünstigte die Bildung sozialer Bewegungen.

Durch den Basiskonsens wird also Regelsicherheit produziert. Zudem spiegeln sich im Basiskonsens die Machtverhältnisse als eine Praxis des Ausschlusses abweichender Meinungen. Im Basiskonsens wird ein allgemein gültiger gesellschaftlicher Bedeutungshorizont festgelegt. Dadurch werden die Interpretationen der gesellschaftlichen Grundwerte in normativen Regelungen verfestigt. Schliesslich werden dadurch die Diskurse strukturiert.

Der Kompromiss des Basiskonsenses gibt also an, welche Meinungen gültig sind und welche ausgeschlossen werden, und bestimmt, welche Gruppen in den Genuss welcher staatlichen Aufmerksamkeit gelangen. Der Basiskonsens beendet die Kämpfe um die Einlösung aller möglichen legitimen Ansprüche der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.

Der Spezialfall des Basiskonsenses hat grosse Macht bezüglich des Ausschlusses von zusätzlichen, ebenfalls legitimen Ansprüchen und Bedeutungen. Dadurch beschneidet er ein immenses Feld von potentiellen oder virtuellen Diskursen. In der Schweiz war beispielsweise der Arbeitsfrieden ein Element des Basiskonsenses. Dadurch wurde die Streikaktivität praktisch beendet, und die Diskurse um Arbeit wurden eingegrenzt.

Wir möchten an dieser Stelle die von Michel Foucault entwickelten vier Eigenschaften des Diskurses auf unser erweitertes Konzept des Basiskonsenses übertragen. Wir halten fest, dass der Basiskonsens

• den Diskurs kontrolliert, indem festgelegt wird, welche Ansprüche legitim sind und welche nicht.

• die möglichen Diskurse selektiert, indem er Prämissen vorgibt, die für alle gültigen Äusserungen zu gelten haben, wenn sie nicht zum vornherein auf die Ablehnung durch die "grosse Mehrheit" stossen wollen. Diese Prämissen können als implizite Voraussetzungen aus den einzelnen diskursiven Ereignissen extrahiert werden.

• den Diskurs organisiert, indem ein Sinn- und Bedeutungshorizont bestimmt ist, auf den sich die Elemente des Diskurses beziehen müssen.

• den Diskurs kanalisiert, indem die möglichen Ziele, Utopien und Visionen vorläufig, aber verbindlich festgelegt sind. Er funktioniert als Leitplanke für mögliche Äusserungen und bestimmt die Bandbreite respektive das Spektrum des Diskurses.

2.8 Regelgeleitetes Handeln bei Individuen

An dieser Stelle scheint uns sinnvoll zur Präzisierung unserer Ergebnisse, Siegenthalers Theorie regelgeleiteten Handelns einzuführen.

"(...) Ökonomen [pflegen] individuelles Handeln als im Prinzip autonom, aber doch koordiniert durch Marktmechanismen zu modellieren (...), während Soziologen (...) vom Markt kaum reden, dafür aber die Koordinationsmechanismen institutioneller Zwänge und konsensualen Denkens ins Bild rücken. Für solche Rollendifferenzierung gibt es von der Sache her keine zwingende Begründung. Individuelles Handeln wird immer über Märkte, aber auch über institutionelle Strukturen und über kognitive Regeln koordiniert"72

Natürlich hat uns nicht nur Siegenthalers obige Aussage dazu bewogen, seine theoretischen Überlegungen in unsere Arbeit einfliessen zu lassen. Interessant finden wir dabei, dass er den sozialen Wandel aus einer anderen Perspektive angeht, als dies bei Bornschier geschieht. Siegenthalers Ansatz geht vom rational handelnden Wesen im Sinne der Ökonomie aus, währenddem Bornschier die makrosoziologische Komponente betont, in dem er das politökonomische Regime unter anderem – wir werden im nächsten Abschnitt darauf eingehen – als Ort politischer und ökonomischer Handlungen und Entscheidungen sowie der Mechanismen der Konsensbildung bestimmt. Somit definiert Bornschier das politökonomische Regime als Regelsystem, welches einer Übereinkunft politischer und ökonomischer Akteure bezüglich ihrer Handlungen entspricht.

Wo Bornschier also makrosoziologisch vorgeht, untersucht Siegenthaler mittels kommunikations- und diskurstheoretischen Überlegungen das individuelle rationale Handeln im Kontext der Krise. Natürlich bezieht sich seine Theorie zunächst auf ökonomische Unsicherheit. Wir möchten seine Überlegungen aber übertragen auf generelle Unsicherheitsbedingungen.73

Individuen verfügen über "kognitive Regeln"74, über Regeln der Selektion der Klassifikation und der Interpretation von Informationen. Die kognitiven Regelsysteme sind Ergebnis von Kommunikation. Weshalb sollte nun aber das Individuum selbst dazu beitragen, durch Kommunikation kognitive Regelsysteme auszubilden? Es ist schliesslich anzunehmen, dass individuelles Handeln – ähnlich wie das kollektive Handeln welches als Resultat der im Basiskonsens verwirklichten zeitweiligen Stabilität träge wird, sich an Bestehendem orientiert – sich auf bestehende Regelsets, also Normen, Regeln und Handlungsmuster verlässt und diese als Lieferant von Sicherheit, von Vertrauen versteht. Neue Regelsets werden durch Kommunikation, durch Austausch von Informationen gebildet.

Siegenthaler möchte zeigen, dass die:

"(...) Einflussnahme auf institutionellen Wandel und Entwicklung neuen Denkens – Ausbildung und Einübung neuer Regeln der Selektion, der Klassifikation und der Interpretation von Information – in engster Wechselwirkung aufeinander abgestimmt ihre Ursache haben im elementaren Bedürfnis des individuellen Aktors nach Rückhalt in interaktiver Kommunikation als einer Quelle der Selbstbestätigung im Prozess der Modifikation oder Neugewinnung kognitiver Regeln."75

Die gesellschaftliche, die interaktive Kommunikation über Regelsets, über Normen und verbindliche Leitplanken – in unserer Übertragung – gesellschaftlichen Zusammenlebens, gesellschaftlichen Umgangs mit Krisen, entspringt also der Unsicherheit des Individuums.76

Im Zeitpunkt der Krise versuchen Individuen also in Kommunikationsgemeinschaften, Vertrauen wiederzugewinnen. Dies geschieht dadurch, dass sie durch das Ausüben von Kommunikation in soziale Kollektive eintreten, welche ihnen Rückhalt geben, die Unsicherheit nehmen. Doch:

"Unsere These verlangt, dass nicht beabsichtigte Konsequenzen individuellen und kollektiven Handelns aus einem Krisenkontext heraus zur Stabilisierung führen: Zur Wiederherstellung des Vertrauens individueller Aktoren in die Regeln, nach denen sie Informationen auswählen, ordnen und deuten, zur Klärung der Ziele, an denen soziale Kollektive ihr Handeln ausrichten, zur Befestigung institutioneller Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich individuelles und kollektives Handeln vollzieht, zur Eingrenzung dessen, was man als Spielraum möglicher Entfaltung politischer Kräfte wahrnimmt."77

Der Fokus auf Siegenthalers Erkenntnisse hat uns gezeigt in welcher Form Kommunikation unter Individuen in sozialen Kollektiven schliesslich zu mehr oder weniger gültigen78 Regelsets führen kann. Er weist aber darauf hin, dass – da er ja von Regelvertrauen den Mechanismen des Marktes gegenüber ausgeht – der durch das Fehlen von verbindlichen Regelsets grössere Handlungsspielraum der Individuen und der Kollektive die Auseinandersetzungen im politischen Bereich verschärfen kann.

Für uns gilt es festzuhalten, dass zum Zeitpunkt der grösstmöglichen Krise im Konfliktverlauf eines Gesellschaftsmodells das Vertrauen der Individuen in die bisherigen Regelsets und Normen, und damit im übertragenden Sinne in den Basiskonsens empfindlich erschüttert ist. Unter diesen Bedingungen versuchen die Individuen, durch interaktive Kommunikation Rückhalt, Sicherheit zu finden. Dazu werden zunächst Kommunikationsgemeinschaften, dann soziale Kollektive gebildet – oder sie gehen aus bereits bestehenden hervor, haben aber das neue Ziel, die Unsicherheit zu überwinden, ohne dass dies zielgerichtet geschehen würde.

An diesem Punkt gilt es, diese Erkenntnisse wieder auf unsere Fragestellung zurück zu übersetzen., zurück zur Makroperspektive zu kommen. Durch die Kommunikationsgemeinschaften werden neue Diskurse gespannt, welche durch ihre blosse Existenz Sicherheit versprechen. Sie werden, falls sie dazu geeignet sind, von Machträgern der Gesellschaft, seien dies nun staatliche oder nicht-staatliche benutzt werden können, um die Krise zusätzlich zu lindern. Wenn Siegenthaler von nicht beabsichtigten Konsequenzen spricht, die die Gesellschaft letztendlich aus der Krise heraus zurück in die Stabilität führt, möchten wir betonen, dass die Inhalte der Diskurse, welche aus der Kommunikation über Unsicherheit hervorgehen, nicht beabsichtigt, nicht vorbestimmt sind. Trotzdem müssen sie, wollen sie die ihnen zugeschriebene Rolle im sich zersetzenden Gesellschaftsmodell übernehmen, der Gesellschaft ein Mehr an Sicherheit bieten können – vielleicht auch, in dem sie die Sicherheit als solche thematisieren.

"Zweifellos bleiben (...) Wünsche offen, und gerne erführe man, was das Aufkommen und die Ausbreitung der Diskurse auslöst, worin die Dynamik der diskursiven Umwälzungen und Veränderungen besteht und wie sich schliesslich die Beziehungen der Diskurse untereinander und zu ihrer Umgebung gestalten."79

2.9 Fazit

Zu Beginn der 1990er Jahre ist das alte Gesellschaftsmodell zersetzt. Der Basiskonsens bricht auseinander, das politökonomische Regime ist nicht mehr in der Lage, seine Problemlösungskapazität zu regenerieren, und das moralische Regime kann der Gesellschaft keine sinnstiftenden Leitplanken mehr bieten. Die Verunsicherung der Gesellschaft ist sehr gross, und gesellschaftliche Konflikte gehören zur Tagesordnung. Zu keinem anderen Zeitpunkt ist das Bedürfnis nach einem verbindlichen Konzept zum Umgang mit Konflikten so stark wie im Tiefpunkt des Gesellschaftsmodells. Die Ansätze eines neuen sinnstiftenden Konzeptes müssen drei Hauptcharakteristika aufweisen: Sie müssen schneller auf den Fortschritt reagieren können als die Ruinen politökonomischen Regimes. Zudem müssen sie auf Macht empfindlich reagieren, damit staatliche Interventionen umgesetzt werden. Sie müssen darüber hinaus die Fähigkeit besitzen, integrierend zu wirken, um damit von der Gesellschaft grösstmögliche Legitimität zu bekommen.

Die Bestandteile des Gesellschaftsmodells sind dazu nicht in der Lage. Der Basiskonsens als Symbol für den gesellschaftlichen Zusammenhalt kann in keiner seiner zwei Dimensionen diese Aufgabe übernehmen. Die Dimension der Sozialstruktur ist ebenso umkämpft wie die Funktion im Verhältnis zu Diskursen und öffentlicher Meinung. Beide Dimensionen sind nicht mehr legitimiert, die von der Gesellschaft geforderte Sicherheit bereitzustellen.

Das politökonomische Regime leidet ebenfalls unter Legitimitätsverlust. Beide Bestandteile des Gesellschaftsmodells sind zu träge, als dass sie schnell und wirkungsvoll auf die auftretenden Probleme reagieren zu können.

Diskurse beginnen dort zu wirken, wo das Gesellschaftsmodell an eine imaginäre Wand stösst, wo der gesellschaftliche Konsens auseinanderbricht.

Sie werden zu diesem Zeitpunkt nicht "neu geboren", sie sind a priori da, denn sie können ja als Fluss von Wissen durch die Zeit verstanden werden. Sie wirken immer auf die Gesellschaft, nicht nur dann, wenn das Gesellschaftsmodell auseinanderbricht. Diese Wirkung haben sie, indem sie im Basiskonsens verankert sind, indem sie wechselwirkend auf Politik, Wirtschaft, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung Einfluss nehmen.

Die Diskurse beginnen zum Zeitpunkt des auseinanderbrechenden Gesellschaftsmodells die Formierung eines neuen Basiskonsenses vorzubereiten, indem sie vorübergehend die Ordnungsfunktion des zukünftigen Basiskonsenses simulieren.

Die Charakteristika der Ansätze des neuen sinnstiftenden Konzeptes passen bestens auf diejenigen der Diskurse. Diskurse reagieren empfindlich auf Macht. Wer Macht hat, hat die Möglichkeit, Diskurse zu beeinflussen und damit eine neue diskursive Realität zu schaffen. Ihre Eigenschaft, das gesamte gesellschaftliche Sein zu durchdringen, ermöglicht es, sie schnell und flexibel auf Konflikte reagieren zu lassen und die Sinnentleertheit des zerbrechenden Gesellschaftsmodells vergessen zu machen. Die Diskurse sind schon in der Gesellschaft vorhanden, ihr Netz liegt über jeder gesellschaftlichen Aktion und Wahrnehmung. Deshalb kann durch Diskurse in kürzerer Zeit reagiert werden als ein neuer Basiskonsens zu seiner Entstehung brauchte.

Im Zeitpunkt des grössten Konfliktes hat die Wiederherstellung eines neuen Basiskonsenses, eines neuen politökonomischen Regimes Priorität. Unabdingbar dafür ist, dass sowohl die Eliten als auch die Gesellschaft sich loyal gegenüber einem neuen Entwurf zeigen. Für die Eliten ist zusätzlich zu ihrer eigenen Loyalität die Massenloyalität wichtig. Eliten sind massgebend an der Ausarbeitung dieses neuen Entwurfs beteiligt, deshalb entscheidet die Massenloyalität über die Zukunft der gesellschaftlichen MachtträgerInnen mit. Instrumentalisierte Diskurse können dazu beitragen, Massenloyalität hervorzurufen. Ihre Eigenschaft, reale Ereignisse als diskursive Ereignisse abbilden zu können, macht sie gerade für den Bereich der gesellschaftlichen Sicherheit sehr interessant. Zuweilen entstehen dabei diskursive Wirklichkeiten, die sinnstiftend und integrierend wirken.

Strukturelle und institutionelle Anpassungen, welche den diskursiven Entwurf unterstützen, können die Loyalität zusätzlich verstärken.

Dass Diskurse über Sicherheit diese integrierende Rolle übernehmen, liegt daran, dass Sicherheit ein grundlegender Anspruch einer jeden Gesellschaft ist. Damit ist sie im Basiskonsens ebenso vorhanden wie in jedem Teilbereich des Gesellschaftsmodells. Der Basiskonsens bietet Sicherheit im Rahmen der Handlungsregeln, der Leitplanken gesellschaftlichen Handelns. Zudem entspricht er der Übereinkunft über die strukturelle Dimension der Sicherheit. Wenn nun sowohl die diskursive als auch die strukturelle Dimension der Sicherheit durch den Zerfall des Basiskonsenses verloren geht, ist das Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft nicht mehr gestillt. Deshalb liegt die Annahme nahe, dass die Diskurse, welche für eine bestimmte Zeit die Funktion des Basiskonsenses übernehmen, nicht nur durch ihre "diskursive Funktion", also durch das Bereitstellen von Handlungsregeln, auf Sicherheit ausgerichtet sind, sondern auch inhaltlich Sicherheit thematisieren.

Wir können keine generellen Aussagen darüber machen, ob nun die Inhalte dieser Diskurse, welche bereits eine strukturelle und institutionelle Ausgestaltung nach sich gezogen haben, auch tatsächlich im neuen Gesellschaftsmodell integriert werden beziehungsweise in den neuen Basiskonsens Eingang finden. Die Chance dafür steht insofern gut, als Bereiche, die eine gesellschaftliche Übereinstimmung gefunden haben, sich nur mit beträchtlichem (diskursivem) Aufwand wieder aus dieser Übereinstimmung ausgrenzen lassen, denn sie haben sich schliesslich als integrierend, als sinnstiftend bewährt.

Eine Dimension des Basiskonsenses entspricht der Übereinkunft über den herrschenden Diskurs. In dieser Funktion stellt er die Leitplanken gesellschaftlichen Handelns dar. Diese Übereinkunft wird beim Zusammenbruch des Gesellschaftsmodells ebenfalls aufgekündet. Es herrscht keine einhellige Meinung über herrschende Diskurse mehr vor. Vielleicht können sich Diskursstränge über den Punkt des Zusammenbruchs hinaus die Zustimmung der Gesellschaft erhalten, entscheidend ist aber, dass sie nicht mehr als Bestandteil einer gesellschaftlichen Übereinkunft verstanden werden können.

Wenn wir versuchen, den Zeitpunkt der grösstmöglichen Krise im Konfliktverlauf des Gesellschaftsmodells genauer unter die Lupe zu nehmen, müssen wir die Makroperspektive verlassen und uns auf die Ebene der Individuen begeben. Wir verwenden für diesen Schritt die "Theorie regelgeleiteten Handelns" von Hansjörg Siegenthaler. Er beschreibt, wie in Zeiten fundamentaler Unsicherheit die Individuen einerseits durch ihre Unsicherheit und den dadurch entstehenden Mangel an Rückhalt, andererseits durch selektive Anreize wie Lernchancen und die Teilnahme an Kommunikationsgemeinschaften bzw. sozialen Kollektiven (welche ihrerseits sozialen Rückhalt bieten können) beginnen, interaktiv zu kommunizieren. In und zwischen diesen sozialen Kollektiven beginnen sich dadurch Kommunikations-, Diskursnetze zu entwickeln, welche ihrerseits zumindest zu Beginn noch keine ausformulierten Regelsets transportieren, aber bereits durch ihre Existenz Sicherheit vermitteln können. Welche Inhalte diese Diskurse haben, kann nicht vorausgesagt werden. Diskurse zur Sicherheit, welche die gegenwärtige Situation beherrschen, bieten sich deshalb an, weil sie nicht nur durch ihre blosse Existenz eine strukturelle Sicherheit bieten können, sondern mit ihrem Inhalt zusätzlich die gesellschaftliche Unsicherheit, die sich über alle gesellschaftlichen Bereiche gewissermassen kondensieren lassen können.

Das Auseinanderbrechen des Basiskonsenses löst eine Fülle von Sicherheitsdiskursen aus. Diese simulieren vorübergehend eine neue Ordnungsfunktion. Sie beeinflussen zudem die gesellschaftliche Wahrnehmung. Wir nehmen deshalb an, dass sie die gesellschaftliche Verunsicherung, die durch den zersetzten Konsens ohnehin schon ausgeprägt ist, zusätzlich verstärken. So sind die (Un-)Sicherheitsdiskurse für die Diskrepanz zwischen der "Erfassten Kriminalität" als Verunsicherungsfaktor und der "Kriminalitätsfurcht" als gesellschaftliche Wahrnehmung dieses Verunsicherungsfaktors verantwortlich.

 

Kapitel 1 | Kapitel 3