1. Einleitung

In den 1980er Jahren prägten Umwelt- und Technologiekatastrophen die Berichterstattung der Massenmedien. Waldsterben, Ozonloch, Treibhauseffekt, Bhopal, Tschernobyl und unzählige weitere Stichworte bezeichnen Risiken, die damals in dramatischer Art und Weise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit traten. Die hochtechnologisierte Gesellschaft hatte sich in ein "modernes Mittelalter der Gefahr"1 verkehrt. Soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen organisierten den Protest gegen die drohenden Ökokatastrophen, transformierten sich später zu Parteien und Organisationen, die unterdessen institutionalisierter Bestandteil der westeuropäischen politischen Landschaft sind.

Doch so prominent Technologie- und Umweltrisiken auch waren – sie treten heute wieder in den Hintergrund und erfahren gerade noch in Form von kurzlebigen Skandalen die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit.

Andere Aspekte von Sicherheit und Risiko sind an ihre Stelle getreten. Die 1990er Jahre stehen unter dem Zeichen der Angst um Hab und Gut, der Furcht um Leib und Leben. Die Kriminalität, die Asyldebatte sowie Arbeitslosigkeit und der globale Standortwettbewerb haben Umweltanliegen und Technologierisiken nicht nur aus der politischen und medialen Arena verdrängt, sondern gleichzeitig ihre Berechtigung untergraben: Umweltschutzmassnahmen werden unter dem Gesichtspunkt des globalen Standortwettbewerbs zum Standortnachteil, der Arbeitsplätze gefährdet.

Die Bedrohungen sind zwar nicht weniger körperlich geworden: Gifte und Radioaktivität gefährden den eigenen Körper ebenso wie die Bedrohung durch Gewaltkriminalität. Trotzdem erscheinen die Risiken und Gefahren der 1990er Jahre näher, unmittelbarer und scheinen die persönliche Sphäre direkter zu verletzen als Umweltrisiken. Die Möglichkeit, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist eher nachvollziehbar als die Gefahr, nach einem Reaktorunfall verstrahlt zu werden, und die Vorstellung, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden, scheint den Körper direkter zu gefährden als die Pestizide, die mit der täglichen Nahrung eingenommen werden.

Der Blick auf Sicherheit hat sich vom Aussenraum der Umwelt und der Ökosysteme sowie der Gefahrenherde unsicherer Produktionsstätten auf anderen Kontinenten abgewandt und fokussiert auf nahe Gefahrenherde in der Lebenswelt der BürgerInnen, auf die nahe Umgebung des Wohnquartiers, das plötzlich auch von fremdländischen Menschen bewohnt wird und wo selbst tagsüber mit einem Einbruch gerechnet werden muss.

In der öffentlichen Meinung folgt sogleich die Verbindung solcher Gefahren. Mehr noch: die Ausländer, besonders die Asylanten, werden als Verursacher der Kriminalität dargestellt, und es werden verschiedene Erklärungen für die besonders hohe Kriminalitätsneigung von Ausländern und Asylanten feilgeboten.2

Die Furcht vor Kriminalität ist in Westeuropa stark verbreitet: 1993 waren in Frankreich über 39% der Befragten einer Eurobarometer-Studie besorgt darüber, in naher Zukunft Opfer einer Straftat werden zu können. Weitere 12.7% waren sogar sehr besorgt. In Westdeutschland und Belgien war die Furcht etwa gleich stark.3

Die Verlagerung des Sicherheitsbedürfnisses auf Aspekte der physischen Sicherheit schliesst in Europa auch die Befürwortung einer gesamteuropäischen Polizei ein: Gemäss derselben Eurobarometer-Studie begrüssten in Frankreich 89.9%, in Belgien 94.6% und in Westdeutschland 90.7% der befragten Personen die Schaffung der europäischen Polizei "EUROPOL".4

Die Verunsicherung in der Bevölkerung und das veränderte Sicherheitsbedürfnis können aber kaum aufgrund jener Faktoren erklärt werden, auf die sie sich beziehen. Weder hat die Wahrscheinlichkeit, Opfer der Kriminalität zu werden, im selben Mass zugenommen wie die Kriminalitätsfurcht, noch haben sich die Umwelt- und Technologierisiken in dem Masse verändert wie ihre öffentliche Thematisierung.

Daraus wird ersichtlich, dass zwischen der Wahrnehmung von Verunsicherung, der objektiven Entwicklung von Risikolagen und der Thematisierung von Risiko und Verunsicherung keine direkten kausalen Beziehungen bestehen, sondern dass die Bereiche über komplexere Beziehungen verbunden sind. In der vorliegenden Arbeit wollen wir diese Wirkungszusammenhänge im westeuropäischen Kontext anhand konkreter Beispiele untersuchen.

Dazu entwickeln wir in Kapitel 1 aufgrund einer differenzierten Ausgangslage, die präzise Fragestellung und betten diese in einen theoretischen Rahmen. Wir wollen dabei den gegenwärtigen Verunsicherungen im Bereich Kriminalität und Innere Sicherheit Rechnung tragen. Diese erscheinen uns aufgrund des allgemeinen sicherheitsbezogenen Perspektivenwechsels vom Aussenraum der Technologie- und Umweltgefahren hin zum Binnenraum der Inneren Sicherheit, als besonders geeignet, einen Einstieg in die Sicherheitsproblematik zu finden. Die nicht-kausale Beziehung zwischen Verunsicherungsfaktoren und der Wahrnehmung von Verunsicherung wird dann in der Theorie der Karriere von Gesellschaftsmodellen verankert werden, und gleichzeitig beleuchten wir ihre strukturelle Dimension. Das Konzept eines gesellschaftlichen Basiskonsenses wird uns dabei hilfreich sein, die Dynamik der gesellschaftlichen Thematisierung von Sicherheit zu untersuchen.

Im zweiten Kapitel werden wir uns mit der Grundlage der kommunikativen Produktion von Verunsicherung und Sicherheit befassen: Mit den gesellschaftlichen Diskursen. Das zunächst hauptsächlich strukturell angelegte Konzept des Basiskonsenses aus dem ersten Kapitel wird dann mit Erkenntnissen aus der Diskurstheorie verbunden.

Aus den theoretischen Überlegungen der ersten beiden Kapitel entwickeln wir in Kapitel 3 Hypothesen zum konkreten Verlauf des Basiskonsenses. Nachdem wir diese empirisch untersucht haben, verfügen wir über eine elaborierte theoretische Vorstellung der Entwicklung von Verunsicherungsfaktoren und der Wahrnehmung von Verunsicherung sowie der Diskurse zu diesen beiden Bereichen.

Im vierten Kapitel werden die empirischen Befunde anhand von Theorien der Öffentlichkeit erklärt. Wir werden uns dabei mit dem Befund auseinandersetzen, dass der Basiskonsens entgegen unserer Erwartungen nationalstaatlich fragmentiert ist.

Im fünften Kapitel fragen wir schliesslich nach den qualitativen und situativen Faktoren, die zu Beginn der 1990er Jahre die Sicherheitsdiskurse geprägt haben. Auf diese Weise analysieren wir jene Aspekte der Entwicklung von Verunsicherungsfaktoren und der Wahrnehmung von Verunsicherung, die mit theoretischen Konzepten nicht abgedeckt werden konnten.

1.1 Ausgangspunkt

"Die Angst geht um!", "Deutsche fürchten um ihr Eigentum", "Berliner fühlen sich unsicher", "Bürger fühlen sich von Kriminellen bedroht". So und ähnlich lauten Schlagzeilen, wie sie in praktisch allen Medien in den letzten Jahren gehäuft anzutreffen waren. In dramatischer Art und Weise wurde auf die Furcht der Bevölkerung vor Kriminalität hingewiesen. Auch die Wissenschaft befasst sich seit längerem kontinuierlich mit Kriminalitätsfurcht, führt Erhebungen durch, die sich dann in der verdichteten Form einer Tabelle wiedergeben lassen (vgl. Tabelle I).

Tabelle I

Kriminalitätsfurcht in Deutschland 1975-1992

 

Okt./Nov.

1975

%

Feb./März.

1979

%

Juli

1980

%

Nov.

1980

%

Juli

1982

%

März

1992

%

Dass bei mir zu Hause

eingebrochen wird

21

20

19

22

21

43

Dass das Auto

aufgebrochen wird

11

14

12

19

12

31

Dass ich unterwegs

bestohlen werde

12

9

11

16

15

29

Dass ich beim Einkaufen

betrogen werde

12

9

10

15

11

16

Dass ich überfallen

und beraubt werde

20

17

17

18

23

38

Dass man mir nachstellt,

mich umbringen will

4

5

-

3

-

9

Dass ich am Arbeitsplatz

bestohlen werde

2

3

-

4

-

4

Vor Sittlichkeits-

verbrechern

13

13

14

11

-

22

Dass ich von einem

Betrüger um meine Erspar-

nisse gebracht werde

7

9

9

7

-

13

Dass jemand mein Haus,

meine Wohnung anzündet

6

7

7

5

-

12

Dass man mir während

eines Auslandaufenthaltes

etwas stiehlt

12

11

12

18

11

23

Quelle: Allensbacher Studien Nr. 3021, 3065, 3084, 3090, 4011, 5062. In: Reuband, 1993. S. 49.

Die Furcht vor den verschiedensten Delikten hat diesen Untersuchungen zufolge zwischen 1982 und 1992 markant zugenommen, während sie zuvor einigermassen konstant war.5

Die wachsende Verunsicherung wurde in aller Regel mit der "wachsenden Kriminalität", wie sie in den polizeilichen Kriminalstatistiken nachzulesen ist, erklärt.

Die Soziologin Helga Cremer-Schäfer hat die Dynamik der Dramatisierung von Kriminalität analysiert und die Praktiken des "polizeilich-publizistischen Dramatisierungsverbundes" als "Konstruktion von Sicherheits-Paniken und Gewalt-Paniken" herausgearbeitet.6

Sie zeigt, wie in den Massenmedien Bedrohungsszenarien zusammengeschustert werden, die den Eindruck der Allgegenwart von Kriminalität vermitteln: Polizeiliche Rohdaten, meistens die absoluten Zahlen aller Anzeigen (von der Polizei vorsorglich in "erfasste Straftaten" umbenannt) werden aufsummiert und daraus die "Explosion" der "Kriminalität" beschworen.7 Ein zweites Mittel ist die Kriminalitätsuhr. Mit ihrer Rede von: "Alle 11 Stunden ein Mord, alle 1,3 Minuten ein Ladendiebstahl"8, suggeriert die Kriminalitätsuhr die Allgegenwart von Bedrohung.9

Aus kritischer Perspektive zeigt sich, dass wachsende Kriminalitätsfurcht nicht als Reaktion auf das Ansteigen von realen Bedrohungen, also auf die relative Zunahme von Straftaten und das damit gewachsene Risiko, selber Opfer zu werden, zurückgeführt werden kann. Es existiert ein anderer Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Kriminalität (sowie der daraus resultierenden Furcht vor Kriminalität) auf der einen Seite und dem Objekt der Furcht, also der Kriminalität im Sinne von Straftaten auf der anderen Seite.

Der Zusammenhang zwischen Straftaten und Furcht wird in der kritischen Perspektive von Cremer-Schäfer durch eine intervenierende Variable, einen zusätzlichen Akteur, nämlich den "polizeilich-publizistischen Dramatisierungsverbund" hergestellt. In der oben beschriebenen Praxis der Dramatisierung wird einerseits das Wissen über die "Kriminalität" selbst hergestellt, indem die Polizei alljährlich ihre Kriminalstatistik publiziert. Darin ist die "Arbeitsbelastungs- und Ereignisstatistik der Polizei"10 sind alle Anzeigen enthalten, die bei der Polizei eingegangen sind. Die Anzahl der Anzeigen wird dann mit der "Entwicklung der Kriminalität" gleichgesetzt. Dieses polizeiliche Konstrukt wird von den Medien in dramatischer Weise verbreitet und wirkt auf diese Weise auf die öffentliche Meinung und Wahrnehmung ein. Nach solcher Panikmache sollte folglich die Kriminalitätsfurcht grösser sein als vorher.

Im Gegensatz zu konservativen Ansätzen, welche die Kriminalität fraglos als Ursache für Verunsicherung ansehen und daraus in der Regel die Forderung nach mehr Kontrolle und einem Ausbau der Sicherheitsapparate ableiten, argumentiert Cremer-Schäfer mit ihrem kritischen Ansatz umgekehrt. Hier steht am Anfang das Gespann von Polizei und Medien, das die Wahrnehmung von und die Furcht vor Kriminalität produziert.

Die Argumente, die bis jetzt dargelegt wurden, beziehen sich auf Kriminalitätsfurcht und gemessene Kriminalität in Gestalt der Anzeigehäufigkeit von Straftaten. Bevor wir weitere Überlegungen anstellen, möchten wir einen empirischen Blick auf die Entwicklung dieser beiden Indikatoren werfen.

Wir haben dazu die Anzeigehäufigkeit pro 100'000 Personen in der Bundesrepublik Deutschland und die Kriminalitätsfurcht, operationalisiert als "Sorge, weil die Kriminalität immer zunimmt"11, in der Abbildung 1 auf Seite * dargestellt. Die Grafik gibt Auskunft über die Veränderung der beiden einzelnen Dimensionen. Es handelt sich um zwei qualitativ verschiedene Dimensionen, die nicht direkt miteinander verglichen werden können. Daher ist zu beachten, dass sich neben der quantitativen Entwicklung jedes einzelnen Indikators für sich lediglich die Zeitpunkte, an denen die beiden Kurven ihre Steigung ändern, vergleichen lassen. Denn die Skalen sind letztlich willkürlich gewählt, und die Steigung der beiden Kurven darf nicht direkt verglichen werden. Zudem möchten wir nochmals darauf hinweisen, dass die Anzeigehäufigkeit nicht mit der Anzahl der tatsächlichen Gesetzesübertretungen gleichgesetzt werden kann, sondern alle bei der Polizei registrierten Anzeigen, losgelöst von ihrer Qualität und losgelöst von der Frage, ob hinter jeder Anzeige wirklich eine Straftat steckt, wiedergibt.

 

Abbildung 1

Kriminalitätsfurcht und Entwicklung der Anzeigen pro 100'000
in Deutschland 1970-1995

Quellen: Kriminalitätsfurcht: Allenspacher Archiv; Anzeigen pro 100'000: BKA in Der Fischer Weltalmanach (verschiedene Jahrgänge). In den Zahlen ab 1989 sind auch die neuen Bundesländer enthalten.

Die Abbildung 1 bestätigt, dass sowohl die Kriminalitätsfurcht als auch die polizeilich registrierten Anzeigen gestiegen sind. Die Anzeigen sind bis in die 1980er Jahre kontinuierlich angestiegen, erreichten 1983 einen vorläufigen Höhepunkt und stagnierten hierauf bis 1990. Dann sanken sie kurz ab, um 1992 und 1993 stark anzusteigen. Danach ist keine steigende Tendenz mehr zu beobachten. Im Gegensatz dazu war die Kriminalitätsfurcht trotz des dauernden Anstiegs der Anzeigen bis 1986 rückläufig. Sie bewegte sich bis 1990 zurück auf das Niveau von 1980 und schnellte danach rasant in die Höhe.

Wenn beide Kurvenverläufe miteinander verglichen werden, fällt auf, dass sie sich in den 1970er und den 1980er Jahren in die entgegengesetzte Richtung entwickelten. Zu Beginn der 1990er Jahre machten beide Kurven eine deutliche Aufwärtsbewegung. Insofern liesse sich zumindest ab 1990 die These halten lassen, dass sich die Anzeigehäufigkeit und die Kriminalitätsfurcht parallel entwickeln. Sowohl der kritische Ansatz als auch der konservative würden durch diese Beschreibung der Kurven bestätigt.

Das Entscheidende an der Entwicklung der beiden Indikatoren ist aber, dass die Kriminalitätsfurcht ansteigt, bevor die Anzeigehäufigkeit (der oft bemühten "erfassten Straftaten") zunimmt. Der konservative Ansatz, der behauptet, dass die Zunahme der Kriminalitätsfurcht auf das Ansteigen der Kriminalität im Sinne der "erfassten Straftaten" zurückzuführen sei, gerät angesichts dieses Ergebnisses wohl in Argumentationsnot. Wenn die Furcht ansteigt, bevor es die "erfassten Straftaten" tun, kann das Ansteigen der Furcht schwerlich eine Reaktion auf die Zunahme der "erfassten Straftaten" sein. Dies wird um so deutlicher, als die Frageformulierung zur Kriminalitätsfurcht lautete "...Dass die Kriminalität immer zunimmt"12. Die befragten Personen waren also bereits zu einem Zeitpunkt zunehmend besorgt, dass die Kriminalität immer zunehme, als die "erfassten Straftaten" de facto noch zurückgegangen waren.

Mit dem kritischen Ansatz im Sinne Cremer-Schäfers lässt sich die Entwicklung ab 1990 gut erklären. Ende 1980er Jahre, anschliessend an die Wiedervereinigung, inszenierten Polizei und Medien eine Sicherheitspanik. Diese stützt die Eigeninteressen der Polizei nach mehr Personal und anderen Ressourcen, die gerade angesichts real sinkender Anzeigehäufigkeit legitimiert werden sollen. Zudem können soziale Probleme individualisiert und an den Sicherheitsapparat delegiert werden. Auf diese Aspekte werden wir später in der Arbeit ausführlich zurückkommen.

Schwieriger wird es, wenn auch die Entwicklung der 1980er Jahre berücksichtigt wird, wo die Anzeigehäufigkeit stagnierte und die Kriminalitätsfurcht sank. Es lässt sich dann nicht mehr mit der Dynamik der Dramatisierung erklären, weshalb trotz verschiedener Sicherheitspaniken ("Anti-Terrorismus-Kampagne", "Krieg gegen die Drogen", dann gegen "die Gewalt" usf.) die Kriminalitätsfurcht gesunken ist.

Um die längerfristige, widersprüchliche Entwicklung von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht zu erklären, bedarf es einer breiteren Argumentation, die nicht nur die Dynamik der Sicherheitspanik, ihre Orchestrierung durch Polizei, Medien und Politik, sondern auch ihre gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen miteinbezieht. Wir wollen im nächsten Abschnitt daher kurz die Befunde rekapitulieren sowie die Fragestellung entwickeln und differenzieren, um damit ein konkretes Untersuchungsdesign generieren zu können.

1.2 Entwicklung der Fragestellung

Wir haben gesehen, dass sich die Kriminalitätsfurcht und die Anzeigehäufigkeit (als Indikator für das Ausmass an erfassten kriminellen Handlungen) widersprüchlich entwickeln. Entgegen der Auffassung, dass Kriminalitätsfurcht eine Reaktion auf kriminelle Handlungen sei, hat die Kriminalitätsfurcht in den 1980er Jahren abgenommen, obwohl die kriminellen Handlungen stagnierten. Zu Beginn der 1990er Jahre haben zuerst die Kriminalitätsfurcht und kurz darauf die erfassten kriminellen Handlungen massiv zugenommen.

Dieses widersprüchliche Verhältnis lässt sich weder aus der Dynamik der beiden Indikatoren selber noch mit dem blossen Rückgriff auf die (zweifellos gegebenen) Dramatisierungsstrategien von Polizei und Medien erklären. Es ist daher nötig, dieses Verhältnis in einem grösseren Zusammenhang zu untersuchen. Dazu ist eine Theorie vonnöten, welche das Phänomen in seiner Einbettung in die Sozialstruktur ausleuchten kann.

Die Frage lautet zunächst: Wie lässt sich das widersprüchliche Verhältnis von Kriminalitätsfurcht und Kriminalitätsentwicklung (Anzeigehäufigkeit) erklären?

Wenn wir die Kriminalitätsfurcht betrachten und nach Erklärungen für ihre Veränderung suchen, stossen wir sehr schnell an Grenzen. Ein gutes Beispiel dafür liefert ein Aufsatz von Karl-Heinz Reuband, in dem die rasante Zunahme der Kriminalitätsfurcht in den 1990er Jahren erklärt werden soll. Nachdem auch er darauf hingewiesen hat, dass die Kriminalitätsfurcht nicht aus der polizeilich registrierten Kriminalität erklärt werden kann, zieht er weitere Faktoren hinzu. Zunächst die Wiedervereinigung im Oktober 1990, die aber nicht allein

"... Anlass zu Sorgen gibt und die wirtschaftliche Zukunft ungewisser erscheinen lässt, hinzu kommen Asylantenzustrom, Drogengebrauch und weitere, als Problem empfundene Veränderungen, deren weitere Entwicklung offen ist. (...) Alles zusammen hat zur Folge, in einer im einzelnen nicht mehr bestimmbaren Weise, dass seit 1990 das Gefühl, die heutigen Verhältnisse in der Bundesrepublik würden "Anlass zu Beunruhigung bieten", an Verbreitung gewonnen hat. (...) Diese allgemeine Verunsicherung könnte der primäre Grund sein, warum die Furcht vor Kriminalität in den 90er Jahren erneut ansteigt: Die diffusen Ängste werden auf die Kriminalitätsthematik projiziert und daran festgemacht."13

Reuband treibt hier den Teufel mit dem Beelzebub aus, indem er eine Vielzahl sozialer Probleme heranzieht, um ein einziges zu erklären. Kriminalitätsfurcht wird mit der Wiedervereinigung, dem "Asylantenzustrom", dem Drogengebrauch und weiteren "als Problem empfundenen Veränderungen" erklärt, die sich der Leser und die Leserin selber ausmalen dürfen. Auf diese Weise multipliziert sich zwar die Frage, aber solange nicht jedes einzelne dieser Probleme erklärt werden kann, ist nicht viel an Klarheit gewonnen.

Zwei Dinge werden an dieser Stelle deutlich: Erstens lässt sich Kriminalitätsfurcht nicht alleine mit Kriminalität erklären, sondern verweist auf eine "allgemeine Beunruhigung", auf eine Vielzahl von Faktoren der Verunsicherung. Zweitens sind diese Verunsicherungsfaktoren selbst erklärungsbedürftig.

Wir können nach dieser Überlegung nun die Ausgangsfrage differenzieren und kommen auf diejenigen Fragen, welche wir in der vorliegenden Arbeit untersuchen wollen.

Auf der einen Seite geht es um materielle und strukturelle Dinge: Welches sind die Ursachen und die Faktoren der Verunsicherung? Wie haben sie sich entwickelt und welchen Veränderungsprozessen sind sie ausgesetzt?

Auf der anderen Seite geht es um Wahrnehmungen und Diskurse: Wie werden die Verunsicherungsfaktoren wahrgenommen? Wie wird über sie gesprochen? Mit anderen Worten: Warum und unter welchen Voraussetzungen werden Verunsicherungsfaktoren in der Öffentlichkeit wahrgenommen und thematisiert?

Schliesslich interessieren die Wirkungszusammenhänge dieser beiden Fragekomplexe: Wie hängen die Verunsicherung als Wahrnehmung und Diskurs und die Verunsicherungsfaktoren zusammen? Wie beeinflussen sie einander gegenseitig?

Wir fragen bewusst nicht isoliert nach der Kriminalitätsfurcht und den "erfassten Straftaten", sondern nach breiteren, "abstrakteren" Phänomenen, die wir vorläufig als "Faktoren der Verunsicherung" und "Wahrnehmung von Verunsicherungsfaktoren" bezeichnen. Wenn wir nur nach Kriminalitätsfurcht und Kriminalität fragen würden, bliebe der innere Zusammenhang und das gleichzeitige Auftreten verschiedener Verunsicherungsfaktoren – von Reuband etwas pauschal angesprochen – von vornherein ausgeklammert.

Dennoch werden wir bei der Untersuchung vorerst immer wieder auf das konkrete Beispiel "Kriminalität und Kriminalitätsfurcht" zurückkommen, das zur Illustration und zur Hypothesenbildung herangezogen werden kann.

Wie weiter oben erläutert, muss zur Beantwortung unserer Fragen die ganze Thematik in einen umfassenden theoretischen Rahmen eingebunden werden, der es letztlich erlaubt, den gesellschaftlichen Umgang mit Sicherheit und Risiko sowie deren Konstruktion und Perzeption als Ganzes zu untersuchen. Sonst wäre der Erklärungsversuch dazu verurteilt, lediglich auf einen weiteren Kontext und auf Verknüpfungen mit weiteren Problemen zu verweisen, in der Art, wie wir es oben gesehen haben.

Es kann nicht darum gehen, die ganze Welt zu erklären, weil letztlich der Flügelschlag des Schmetterlings das Wetter bestimme. Weil wir aber davon ausgehen müssen, dass Kriminalitätsfurcht nur eines von verschiedenen Anzeichen für weiterreichende und tiefgreifende Veränderungsprozesse ist, muss die Untersuchung in der nötigen Breite angelegt sein.

Als Nächstes verschaffen wir uns den Überblick über die Theorie, die uns geeignet erscheint, unser Untersuchungsgebiet zu erschliessen, und machen uns Gedanken darüber, wo sie unsere Sicht trüben könnte und wie sie sinnvollerweise zur Abklärung unserer Fragen zu ergänzen wäre.

1.3 Theoretische Verankerung des Problems

Wir haben bereits oben gesehen, dass die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Sicherheit und Risiko sowie deren Konstruktion und Rezeption als Ganzes zu untersuchen ist. Also müssen einerseits die gegenseitigen Wechselwirkungen und Einflüsse von kollektiv wahrgenommener Verunsicherung und gesellschaftlichen Sicherheitsstrukturen berücksichtigt werden. Andererseits muss die relative Unabhängigkeit zwischen der Wahrnehmung von Verunsicherung und den strukturellen Faktoren der Verunsicherung in der Theorie angelegt sein, damit nicht, deterministisch verkürzt, das eine aus dem anderen abgeleitet werden muss. Als theoretischen Rahmen für die Untersuchung haben wir deshalb Volker Bornschiers Theorie der Karriere von Gesellschaftsmodellen ausgewählt, weil es sich um eine Makrotheorie handelt, um einen Ansatz mit weitem Fokus, der längerfristige Wandlungsprozesse und tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung in den Blick nehmen kann.

Die Sozialstruktur westlicher Gesellschaften14 sei durch drei Grundprinzipien gekennzeichnet, die zueinander in Widerspruch stehen, nämlich durch Effizienzstreben, Gleichheitsstreben und Machtstreben. Diese drei Prinzipien werden je aus einem naturrechtlich15 begründeten Anspruch abgeleitet. So folgt Effizienzstreben aus dem Freiheitsanspruch, Gleichheitsstreben aus dem Gleichheitsanspruch und Machtstreben aus dem Sicherheitsanspruch. Wir werden weiter unten genauer auf den Sicherheitsanspruch und das daraus gefolgerte Machtstreben zurückkommen.

Die Theorie beruht weiter auf der Annahme einer schubweisen Abfolge von Gesellschaftsmodellen. Gesellschaftsmodelle sind die "Quanten im sozialen Wandel", die klar sichtbare Neuanfänge brachten. Am Anfang eines Gesellschaftsmodells steht ein historischer Kompromiss zwischen den drei konfliktiven Prinzipien der Sozialstruktur. Der Kompromiss geht weit über die Interpretation der Grundprinzipien hinaus. Er kann als erneuerter Gesellschaftsvertrag, als ausdifferenzierte normative Theorie verstanden werden, der von einem Basiskonsens begleitet ist.

1.3.1 Der Basiskonsens

Wir werden die geraffte Darstellung der Theorie an dieser Stelle etwas verlangsamen, weil der Basiskonsens ein Schlüsselkonzept zur Erklärung unseres Untersuchungsgegenstandes ist. Uns interessieren schliesslich die Wahrnehmung von und die Diskurse über Verunsicherung. Der Basiskonsens könnte einen Zugang zu diesen beiden Phänomenen bilden.

Wir haben Gesellschaftsmodelle als Quanten im sozialen Wandel16 bezeichnet. Unter diesem Aspekt haben wir es mit einer Theorie zu tun, die langfristige Wandlungsprozesse innerhalb eines bestimmten Typus von Gesellschaften untersucht. Der Gesellschaftstyp wird zunächst als "westlich" bezeichnet und dann zusätzlich durch weitere Merkmale wie "formale Demokratie" und "Marktwirtschaft" charakterisiert. Seit der Neuzeit lassen sich in den westlichen Gesellschaften bestimmte Zyklen innerhalb ein und desselben Gesellschaftstyps beobachten. Die Zyklen werden als Gesellschaftsmodelle bezeichnet, die im folgenden mit der Metaphorik von Wellen, von Auf- und Abschwüngen, von Basiskonsens und Dissens, Stabilität und Konflikt charakterisiert werden.

Das Gesellschaftsmodell temperiert den sozialen Konflikt. Am Anfang seiner Karriere, auf der Grundlage eines erneuerten Gesellschaftsvertrages, gelingt dies am besten. Die gesellschaftlichen Grund- oder Leitwerte – Freiheit, Gleichheit und Sicherheit – sind in einer normativen Theorie erfolgreich vereint worden. Die normative Theorie kann quasi als Text des Gesellschaftsvertrages angesehen werden. Eine normative Theorie, die zum Gesellschaftsvertrag wird, ist aus einem konfliktiven Definitionsprozess hervorgegangen, als Kompromiss zwischen den beteiligten gesellschaftlichen Gruppen, als Absicht, wie die Zukunft zu gestalten sei.

Der Basiskonsens ist in Bornschiers Theorie mehrdeutig angelegt. Der Begriff wird wahlweise entweder auf die Zustimmung zur normativen Theorie und zum Gesellschaftsvertrag angewendet oder auf die Zustimmung zur Umsetzung der normativen Theorie17. Einmal wird das Wie und einmal das Was des Gesellschaftsvertrags bezeichnet. Diese Mehrdeutigkeit weist darauf hin, dass der Begriff funktional entworfen wurde. Der Basiskonsens soll einen Konsens über die Elemente eines sozialen Arrangements, eines Gesellschaftsmodells, bezeichnen, welche während der Entfaltung eines Gesellschaftsmodells über die Gräben sozialer Ungleichheiten und Stratifizierungen hinweg nicht mehr strittig sind. Basiskonsens bezeichnet einen Zustand der gesellschaftlichen Regulierung von Konflikt, nämlich jenen Zustand, in dem es gelingt, Massenloyalität gegenüber dem neuen gesellschaftlichen Projekt herzustellen.

Wenn ein Basiskonsens vorhanden ist, stattet die Bevölkerung die herrschende Ordnung durch Zustimmung aktiv mit Legitimität aus18. Umgekehrt verliert die herrschende Ordnung ihre Legitimität, wenn sich der Basiskonsens zersetzt und die Massenloyalität zunächst in Duldung, dann teilweise in Gleichgültigkeit und teilweise in Ablehnung übergeht.

Der Basiskonsens ist unter diesem Blickwinkel nicht nur ein relatives Gleichgewicht, das sich einstellen kann, wenn Freiheits-, Gleichheits- und Machtstreben günstig zu einem Kompromiss vereint worden sind. Wir möchten bereits jetzt festhalten, dass dieses relative Gleichgewicht selbst eine Form der Macht ist: Wenn in der Gesellschaft ein Kompromiss zwischen den drei strukturbildenden Prinzipien durchgesetzt worden ist, so kann dieser nicht bloss als massenhaftes Einlenken auf das temporal vernünftigste aller Argumente verstanden werden, sondern gleichzeitig als Verfahren des Ausschlusses abweichender Meinungen; als Hegemonie eines Bündels von herrschenden Meinungen.

1.3.2 Die Karriere des Gesellschaftsmodells

Wir möchten zunächst auf weitere Aspekte des Gesellschaftsmodells zu sprechen kommen. Dieses durchläuft seine Karriere nämlich nicht nur aufgrund der Zustimmung oder Ablehnung, die wir eben als Basiskonsens thematisiert haben. Zwei Konzepte prägen die Karriere des Gesellschaftsmodells: der technologische Stil19 und das politökonomische Regime20. Das Gesellschaftsmodell stellt eine versuchte Verzahnung von technologischem Stil und politökonomischem Regime dar, welche sich phasenverschoben entwickeln. Daher bleibt es auch nur beim Versuch der Verzahnung der beiden Elemente; denn diese kann nie vollständig gelingen und bringt deshalb auch nur ein relatives Gleichgewicht hervor, ein Gleichgewicht auf Zeit.

Aus der kombinierten Dynamik der Entwicklung des technologischen Stils und des politökonomischen Regimes resultiert die Karriere des Gesellschaftsmodells. Diese Karriere ist für die Wahrscheinlichkeit des Wirtschaftswachstums (siehe Abbildung 2), aber auch für die Wahrscheinlichkeit von sozialen Konflikten ausschlaggebend. Für unsere Untersuchung ist dieser Aspekt von grosser Bedeutung. Wir gehen daher weiter unten etwas genauer auf den Verlauf von Konflikten entlang der Karriere von Gesellschaftsmodellen ein.

Abbildung 2

Phasenverschobene Zyklen der Ausbreitung des technologischen Stils und der Problemlösungskapazität des politökonomischen Regimes sowie die resultierende Wahrscheinlichkeit der wirtschaftlichen Expansion21

Zunächst möchten wir aber noch kurz auf den Begriff der Sicherheit zurückkommen, weil dieser den nachfolgenden Überlegungen zum Konflikt logisch vorausgeht. "Sicherheit" ist vieldeutig und mehrdimensional. Im Kontext der Karriere von Gesellschaftsmodellen erscheint "Sicherheit" als naturrechtlicher Anspruch. Wir haben oben gesehen, dass der Sicherheitsanspruch als eine letztlich anthropologisch verankerte Herausforderung theoretisiert wird, die sich jeder Gesellschaft stellt.

Ein zweiter Zugang zur Sicherheit ist im Modell insofern angelegt, als die zyklische Abfolge von Konsens und Konflikt einen direkten Einfluss auf alle Formen von Sicherheit hat, die im Rahmen eines Gesellschaftsmodells arrangiert werden können. Dazu gehört sowohl die ganze "strukturelle" Dimension der Sicherheit – Schutz von Leib und Leben im Sinne von Innerer Sicherheit, soziale Sicherheit im Sinne vielfältiger wohlfahrtsstaatlicher Sicherung – als auch die "diskursive" Dimension der Sicherheit, wie sie im Konzept des Basiskonsenses angelegt ist. Letztere ist ein System von allgemein anerkannten Werten und Normen, ein handlungsleitender Rahmen.

Ein dritter Zugang zur Sicherheit liegt in der Verbindung von Macht und Sicherheit. Bornschier folgert aus dem Sicherheitsanspruch nämlich nicht etwa ein Sicherheitsstreben, sondern ein Machtstreben. Macht ist im Modell schliesslich als Zentrum konzipiert, um das sich alles andere anordnet, wie es in der Abbildung 3 deutlich zum Ausdruck kommt.

Abbildung 3

Beziehungen zwischen dem moralischen und politökonomischen Regimesowie dem technologischen Stil22

1.3.3 Konfliktverlauf im Gesellschaftsmodell

Die Quellen, die Intensität sowie die Ebenen und die Formen des gesellschaftlichen Konflikts variieren entlang der Karriere von Gesellschaftsmodellen. Als Quellen von Konflikt nennt Bornschier die Machtkonflikte, die sich aus der unterschiedlichen Interessenlage von Akteuren ergeben, dann die Wertekonflikte als Produkt der Unverträglichkeit von Wertinterpretationen und schliesslich Realisierungskonflikte, die sich aus der Diskrepanz zwischen einem Modell und seiner Realisierung ergeben. Diese drei Konfliktquellen sind über die Karriere eines Gesellschaftsmodells in mindestens zwei verschiedenen Anordnungen anzutreffen: Erstens wird in der Formierungsphase des Modells der Wertekonflikt weitgehend beigelegt oder stark abgeschwächt. Daraus ergibt sich eine lange Phase von Realisierungskonflikten. Der Machtkonflikt ist dabei geregelt. "Der gesellschaftliche Konsens wird gegenüber Aussenseitern vehement verteidigt, was sich daran zeigen dürfte, dass die Regierungsgewalt gegenüber Akteuren, die diesen Rahmen sprengen, hoch ist."23 Auf diese These kommen wir weiter unten zurück. Zweitens sinkt der Realisierungskonflikt zugunsten eines zunehmenden Wertekonflikts ab, wenn sich die Problemlösungsfähigkeit des politökonomischen Regimes erschöpft hat. Der Machtkampf wird dadurch ungeregelt und ist nicht mehr in eine allseits anerkannte Ordnungsvorstellung eingebettet.

Auch die Intensität der gesellschaftlichen Konflikte unterscheidet sich in verschiedenen Phasen der Karriere eines Gesellschaftsmodells. Die Formierung und die Entfaltung des Gesellschaftsmodells sind Konsensphasen, und die Konfliktintensität hängt von der Legitimität ab, welche die Mitglieder ihrer Gesellschaft zusprechen. Die Legitimität speist sich aus der Faszination einer neuen Güterpalette zu Beginn des Modells sowie durch die Gerechtigkeit, wenn ein neuer Basiskonsens gefunden worden ist. Die Intensität des Konflikts nimmt mit der Diffusion des technologischen Stils ab. Wenn der technologische Stil bereits gesättigt und das politökonomische Regime noch nicht voll entfaltet ist, gibt es ein Zwischenhoch an Konflikt, welches dann mit dem wirtschaftlichen Hoch zusammenfällt. Wenn sich danach das politökonomische Regime entfaltet, sinkt der Konflikt solange, bis das politökonomische Regime seine Fähigkeit, Probleme abzuschwächen, einbüsst. Dabei verändern die Konflikte, wie weiter oben bereits besprochen, ihre Qualität, indem die Realisierungskonflikte von Wertekonflikten abgelöst werden.

Schliesslich variieren auch die Ebenen und die Formen der Konfliktartikulation über die Karriere von Gesellschaftsmodellen. In der Formierungs- und Entfaltungsphase wird Konflikt häufiger kollektiv artikuliert, in den Kanälen und Formen, auf die sich die Konfliktparteien zuvor im erneuerten Gesellschaftsvertrag geeinigt haben. Solche Kanäle sind beispielsweise Parteien, Gewerkschaften oder Verbände. Entsprechend wird der Konflikt auch formell friedlich ausgetragen. In der Auflösungs- und Zersetzungsphase dagegen fehlen die Kanäle der Konfliktartikulation, was den Konflikt individualisiert und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Konfliktartikulation erhöht.

Wir haben damit die wichtigsten Elemente des Gesellschaftsmodells betrachtet und daraus ein Muster des Konfliktverlaufs über seine Karriere abgeleitet. In der Tabelle II sind die Phasen der Karriere des Gesellschaftsmodells im Überblick festgehalten. Die Tabelle enthält zusätzlich einen Datierungsvorschlag für das Nachkriegsmodell in Europa.

Tabelle II

Phasen in der Karriere von Gesellschaftsmodellen Datierung ab 194524

1945-1956

1957-1967

1968-1979

1980-[1992] Prognose

Politökonomisches Regime

Formierung

Entfaltung

Sättigung und Auflösung

Zersetzung

Technologischer Stil

Kristallisation und Diffusion

Sättigung der Diffusion, erste neue Stilelemente

Neue Stilelemente führen zu Heterogenität

Entfaltung der Elemente eines neuen Stils

Lange Welle der wirtschaftlichen Entwicklung

Aufschwung

Prosperität

Prosperität/ Rezession

Krise

Zwischen-erholung

Depression

Dissens und

Konflikt

nehmen stark ab

nehmen zu

nehmen ab

nehmen stark zu

bewegen sich auf hohem Niveau

In der untersten Zeile ist der erwartete Verlauf von Dissens und Konflikt eingetragen. Das Modell hat demnach eine konkrete Erwartung, welche Bewegung Dissens und Konflikt im Zeitverlauf durchschreiten und wie diese Bewegungen an die Bewegungen der anderen Elemente der Theorie – den technologischen Stil und das politökonomische Regime – gekoppelt sind. Es tritt zudem klar hervor, dass eine parallele Entwicklung von Dissens und Konflikt erwartet wird, so wie wir es bei der Theorie von Cremer-Schäfer auch gesehen haben. Am Beispiel von Kriminalitätsfurcht und "erfassten Straftaten" haben wir dort empirisch gezeigt, dass diese Vorstellung nicht haltbar ist, weil die Kriminalitätsfurcht noch vor den "erfassten Straftaten" angestiegen ist.

Bornschier hat seine Vorstellung zum Konfliktverlauf zu einer Hypothese verdichtet – der sogenannten "W-Kurven-Hypothese" – die Folgendes erwartet: "Die gesamte Höhe des Konflikts folgt danach einem W-förmigen Muster. Gleichzeitig ändert sich aber über dieses Muster der Intensität der Charakter des Konflikts."25 In der Abbildung 4 ist die Hypothese im Detail illustriert.

Abbildung 4

Konflikt über die Karriere des Gesellschaftsmodells (Erwartungen)26

Bornschier hat die W-Kurven-Hypothese an einer breiten Menge von Daten empirisch überprüft. Seine Indikatoren sind: Politische Streiks, Demonstrationen, Aufruhr, bewaffnete Angriffe, Selbstmordhäufigkeit, durch Streiks verlorengegangene Arbeitstage, Sanktionen von Regierungen gegen Bürgerwiderstand, Schlichtung von internationalen Disputen durch die UNO und kriegerische Konflikte. Nach umfangreichen Tests hat sich unter Verwendung dieser Indikatoren die Hypothese bestätigt.

Auch wenn wir uns den Verlauf der "erfassten Straftaten" vergegenwärtigen, wie wir ihn auf Seite * in der Abbildung 1 dargestellt haben, bestätigt sich die W-Kurven-Hypothese. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Straftaten ab 1991 in die Höhe schnellen, anstatt wie postuliert auf hohem Niveau zu stagnieren. Unser Interesse gilt aber der "Wahrnehmung von Verunsicherungsfaktoren", die in derselben Grafik illustrativ als Kriminalitätsfurcht erscheint. Wir gehen davon aus, dass die Wahrnehmung von Verunsicherungsfaktoren mit dem Basiskonsens zusammenhängt, aber nicht einfach in der Art, dass sie parallel oder invers dazu verlaufen würde. Die simple Hypothese, dass die Wahrnehmung von Verunsicherungsfaktoren parallel zum Dissens verlaufe, ist durch den Verlauf der Kriminalitätsfurcht von vornherein empirisch widerlegt.

Vielversprechender ist es, ein präziseres Konzept des Basiskonsenses zu erarbeiten. In der Theorie der Karriere von Gesellschaftsmodellen ist der Basiskonsens schliesslich doppelgesichtig angelegt, indem er eine strukturelle Seite hat (welche eng an den Verlauf von Dissens gebunden ist) und eine diskursive Seite, die theoretisch noch herauszuarbeiten ist. Mit dem Einbezug der diskursiven Funktion des Basiskonsenses, so lautet unser Vorschlag, sollte es möglich werden a) Hypothesen zum Verlauf des Basiskonsenses zu entwickeln und b) aus dem Verlauf des Basiskonsenses Rückschlüsse auf die Dynamik der Wahrnehmung von Verunsicherungsfaktoren zu ziehen.

Dazu erarbeiten wir im nächsten Kapitel die Funktion des Basiskonsenses in Bezug auf gesellschaftliche Diskurse. Im übernächsten Kapitel werden wir in der Lage sein, Hypothesen zum Verlauf des Basiskonsenses aufzustellen, abzuklären und zu guter Letzt auf die Wahrnehmung von Verunsicherungsfaktoren und die Diskurse über Verunsicherungsfaktoren zu beziehen.

 

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